After all, we can only “know” […] the world through our narratives […].
HM 9
Die Fiktion […] ist eine erfundene Realität.160
Der alte Kant war im Recht: Wir sind frei, die „Geschichte“ so zu verstehen, wie es uns gefällt, so wie wir frei sind, mit ihr zu tun, was wir wollen.161
Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die Formen und Funktionen der metafiktionalen Aspekte in dem Roman Die Vermessung der Welt zu untersuchen. Da Metafiktionalität als grundlegende Erzählstrategie bei Kehlmann gilt, sollte vor dem Hintergrund der theoretischen Ausführungen von Gass, Scholes, Alter, Hutcheon, Waugh und Wolf, sowie der Untersuchungen von Sprenger und Zimmermann herausgearbeitet werden, wie sie sich in der Vermessung zeigt, und wie sie mit dem Begriff des gebrochenen Realismus in Zusammenhang gebracht werden kann. Daneben sollten die Problematiken historisierenden Erzählens beleuchtet und das Verhältnis von Realität und Fiktion betrachtet werden. Nach der Betrachtung von Begriff und Theorie der Metafiktion, verstanden als „eine Hybridform aus Tradition und Erneuerung“162, sowie der Formen und Funktionen nach Sprenger und Zimmermann wurden die metafiktionalen Aspekte der Vermessung anhand der Trias Erzähler, Text und Leser herausgearbeitet. Dabei war von Interesse, inwiefern die metafiktionalen Aspekte der Erzählung das Verständnis des Texts beeinflussen und welche Erkenntnisse diese eröffnen.
Wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, ist die Metafiktionalität der Vermessung ist tendenziell implizit, wobei der Erzähler als eine der drei Konstituenten des literarischen Kommunikationsakts im Vordergrund steht. Die Untersuchung des Erzählers, als lenkende und leitende Figur in der Vermessung, hat gezeigt, dass der Erzähler und seine Macht über die Fiktion im Vordergrund stehen. Dies zeigt sich in dem metafiktionalen Spiel mit den Figuren und deren Ahnungen über ihren fiktionalen Status. Dadurch wird einerseits der Literatur als Medium ein Erkenntnispotential zugesprochen, andererseits der Konstruktcharakter von Realität, aber auch Geschichte aufgezeigt. Um es mit Arnold zu sagen, entsteht Geschichte „erst im Schreiben darüber […] und [ist] damit ein aktiver Konstruktionsprozess“163, was auch in der Vermessung vermittelt wird. Besonders durch die metafiktionalen Kommentare von Gauß, aber auch durch die Begegnung Humboldts mit den Ruderern in Südamerika, wird ein Erzählen jenseits eines konventionellen Realismus gefeiert und gefordert, bei dem der Erzähler ins Zentrum rückt. Durch die zahlreich gestreuten impliziten und expliziten intertextuellen Verweise wird nicht nur die Gemachtheit des Textes, sondern auch die Themen des Alterns und des Todes in den Blick genommen. Auch durch den Einbezug und kreativen Umgang mit Aspekten des magischen Realismus wendet sich der Text gegen Rationalismus und konventionellen Realismus. Die Parodie richtet sich auf das Genre des historischen Romans, wodurch die Darstellbarkeit von Geschichte infrage gestellt wird. Die Ironie des Textes fordert vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit dem Deutschsein bzw. mit dem, was als solches betrachtet wird. Die Untersuchung der Konstituente des Lesers hat gezeigt, dass sich viele Aussagen im Indikativ doppelt lesen lassen und somit gleichsam als Kommunikation des Erzählers mit dem Leser fungieren. Letztlich wird dadurch auf verdrängte und grausame Ereignisse der deutschen Geschichte verwiesen, vor allem auf die deutsche Kolonialisierung und den Holocaust. Somit stehen also einerseits der Erzähler sowie das Erzählen jenseits konventionellen Realismus im Vordergrund, andererseits die „Erkenntnis […], dass Realität das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses ist, der subjektiv ist und hochgradig kontingent verläuft.“164 Die Vermessung verdeutlicht aber auch die „Tatsache […], dass es ‚objektive Erinnerung‘ nicht geben kann. […] Solche Literatur trägt auch bei zur Revision und Neukonstituierung kollektiver Identität.“165 Gerade die metafiktionalen Aspekte der Vermessung bringen diese Erkenntnisse in besonderem Maße zutage.
Was die vorliegende Arbeit weder geleistet hat noch leisten wollte, war eine eindeutige Definition des Begriffs der Metafiktion. Ebenso wenig wurde der Grad der Illusion und der Illusionsdurchbrechung im Sinne Wolfs in der Vermessung untersucht oder diskutiert, ob, und falls, inwiefern Kehlmanns Roman, und in Konsequenz auch sein Gesamtwerk, der Postmoderne zuzuordnen sind. Für die Untersuchung der metafiktionalen Aspekte in der Vermessung war diese Einordnung nicht notwendig.
Für zukünftige Untersuchungen wird eine solche Einordnung in Hinblick auf die Vermessung, aber auch auf Kehlmanns Gesamtwerk und im Vergleich zu anderen Werken der deutschsprachigen und europäischen Gegenwartsliteratur von Interesse sein. Bareis hat bereits einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen, als er danach gefragt hat, ob Kehlmanns „Erzählwerk grosso modo der Postmoderne zuzurechnen, und der Autor damit ein ‚Postmoderner‘“166 sein kann. Es wird zu klären sein, ob er der Postmoderne, der Postpostmoderne, oder der ‚Metamoderne‘ zugeordnet werden kann.167 Damit stellt sich gleichzeitig die Frage, was Kehlmanns Literatur ausmacht, aber auch, wodurch sich andere deutschsprachige Gegenwartsliteratur auszeichnet. Durch die Fragen, welche spezifische Funktion Metafiktion in einzelnen Werken hat und welche Tendenzen sich abzeichnen, kann sich zeigen, welche Formen bevorzugt werden und welche epochenspezifischen Merkmale sich festhalten lassen.
Diverse Untersuchungen haben bereits darauf hingewiesen, dass Kehlmanns Werk voll von intertextuellen Verweisen ist. In seiner Beschäftigung mit Kehlmanns Beziehung zur lateinamerikanischen Literatur hat Rickes gezeigt, dass besonders ein Einfluss noch zu untersuchen ist: „Bislang ist wenig beachtet worden, wie sehr diese Erzählweise an dem kubanischen Schriftsteller Alejo Carpentier (geb. 1904 in Havanna, gest. 1980 in Paris) geschult ist.“ (DK 83f.)
Schließlich steht für den Bereich der Metafiktion aus, den Begriff klar zu definieren, theoretisch auszuarbeiten, und eindeutig von anderen, teilweise synonym verwendeten Begriffen abzugrenzen. Dabei kann nicht nur die Beziehung von Metafiktion und Postmoderne im Fokus stehen, sondern eine epochenübergreifende Betrachtung stattfinden. Weitere Forschungsdesiderate haben Hauthal, Nadj, Nünning und Peters bereits treffend aufgezeigt: Es seien nicht nur die „Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte dieser Phänomene“168 zu untersuchen, es fehle bisher auch an einer Darstellung der Formen und Funktionen, der „literaturgeschichtlichen Dimension und der historischen Vielfalt“169 sowie der transkulturellen, -generischen und -medialen Betrachtung metaisierender Verfahren und Funktionen.
160 Braun: Die Erfindung der Geschichte (2013), S. 146.
161 White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt am Main: S. Fischer 1991, S. 563.
162 Frank, Dirk: Narrative Gedankenspiele. Der metafiktionale Roman zwischen Modernismus und Postmodernismus. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2001, S. 73.
163 Arnold: Metaisierungstendenzen in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart, S. 119.
164 Neuhaus: „Eine Legende, was sonst“ (2013), S. 74.
165 Krauss: Aktuelle Tendenzen der deutschen Literatur (2009), S. 229.
166 Bareis, J. Alexander: Moderne, Postmoderne, Metamoderne? Poetologische Positionen im Werk Daniel Kehlmanns. In: Rohde, Carsten; Schmidt-Bergmann, Hansgeorg (Hgg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld: AISTHESIS 2013, S. 321-344, hier S. 321.
167 Vgl. ebd., S. 340.
168 Hauthal, Janine; Nadj, Juijana; Nünning, Ansgar; Peters, Henning: Metaisierung in Literatur und anderen Medien: Begriffsklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate. In: Dies. (Hgg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen. Berlin: De Gruyter 2007, S. 1-21, hier S. 16.
169 Ebd., S. 17.
Ä | Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen: Max Niemeyer 1993.
DE | Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink 2010.
DE | Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink 2010.
DK | Rickes, Joachim: Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012.
EE | Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 1999.
FE | Scheffel, Michael: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Max Niemeyer 1997.
FFL | Gass, William Howard: Fictions and the Figures of Life. 2. Auflage. Boston: Godine 1980.
FM | Scholes, Robert: Fabulation and Metafiction. Urbana: University of Illinois Press 1979.
FS | Wolf, Werner: Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst. Versuch einer Typologie und ein Exkurs zur ‚mise en cadre‘ und ‚mise en reflet/série‘. In: Helbig, Jörg (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg: Universitätsverlag WINTER 2001, S. 49-84.
HM | Hutcheon, Linda: Historiographic Metafiction. Parody and Intertextuality of History. In: O’Donnell, Patrick; Davis, Robert Con (Hgg.): Intertextuality and Contemporary American Fiction. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1989, S. 3-32. Online verfügbar unter: http://hdl.handle.net/1807/10252. [Zuletzt abgerufen am 20. August 2015 um 11:58 Uhr.]
M | Waugh, Patricia: Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London: Methuen 1984.
ME | Sprenger, Mirjam: Modernes Erzählen. Metafiktion im deutschsprachigen Roman der Gegenwart. Stuttgart: J. B. Metzler 1999.
MR | Zimmermann, Jutta: Metafiktion im anglokanadischen Roman der Gegenwart. Trier: WVT 1996.
NN | Hutcheon, Linda: Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox. New York: Methuen 1984.
PM | Alter, Robert: Partial Magic. The Novel as a Self-Conscious Genre. Berkeley: University of California Press 1975.
V | Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. 12. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005.