Kazuo Ishiguro: „Never Let Me Go“ (2005)

Roman, 2005 veröffentlicht und 2021 bei Faber and Faber erschienen, 282 Seiten. ISBN: 978-0-571-25809-3.
„Never Let Me Go“ (2005) von Kazuo Ishiguro | Prosa & Papier

England, in den späten 1990er Jahren: Kathy H. ist 31 Jahre alt und blickt zurück. Auf ihre Kindheit im scheinbar idyllischen Internat Hailsham, auf ihre Jugend mit Tommy und Ruth, auf die ersten Jahre als „Betreuerin“ und auf ein Leben, das nie wirklich ihr eigenes war. Kazuo Ishiguros Never Let Me Go ist eine ruhige, aber umso bedrückendere Dystopie, erzählt aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin, die ihre Erinnerungen sortiert – und uns Leser:innen damit ganz bewusst nicht immer sicher sein lässt, was wirklich passiert ist. Denn vieles liegt im Nebel der Vergangenheit, und Kathy selbst sagt gleich zu Beginn:

This was all a long time ago so I might have some of it wrong

S. 13

Die Welt, in der Kathy aufgewachsen ist, erinnert auf den ersten Blick an ein klassisches Coming-of-Age-Szenario. Doch ziemlich bald wird klar, dass in Hailsham nicht einfach nur Kinder unterrichtet werden, denn die Schüler:innen dort sind Klone. Sie wurden erschaffen, um irgendwann ihre Organe zu spenden. Ein eigenes Leben – mit echten Entscheidungen, mit Freiheit, mit Liebe, mit Zukunft – ist ihnen nicht zugestanden. Diese Erkenntnis sickert im Buch langsam durch, und vielleicht ist es gerade das, was es so erschütternd macht: Wie beiläufig die Grausamkeit dieses Systems beschrieben wird.

Dass ich die Geschichte schon kannte, wurde mir tatsächlich erst beim Googeln vor der Lektüre klar. Vor Jahren habe ich den Film gesehen, allerdings auf Deutsch, unter dem Titel Alles, was wir geben müssen. Weil sich der deutsche Titel so stark vom Original unterscheidet, habe ich die Verbindung zu Never Let Me Go nicht sofort hergestellt. Umso spannender war es, jetzt die literarische Vorlage zu lesen: ruhiger und nachdenklicher als der Film, und mit einer ganz eigenen Atmosphäre. Im Buch fehlte mir allerdings ein wichtiges Zitat, das mich im Film sehr berührt hat, was natürlich eine seltsame Aussage ist, da der Film auf der Grundlage des Buchs erschienen ist.

We all complete

Für mich schwingt hier eine Doppeldeutigkeit mit. Einerseits ist es ein Euphemismus für den Tod – die Klone „vollenden“ ihr Leben, wenn sie ihre letzte Spende geleistet haben. Andererseits steckt darin auch eine fast tröstliche Vorstellung von Ganzheit, von einem erfüllten Leben, auch wenn wir als Lesende natürlich wissen, dass ihnen genau das verwehrt bleibt.

Ein zentrales Element im Buch ist die Erinnerung. Immer wieder weist Kathy darauf hin, dass sie sich nicht ganz sicher ist, ob etwas wirklich so war. Diese Unsicherheit, das Abschweifen, das Umkreisen bestimmter Erlebnisse – all das macht sie zu einer unzuverlässigen Erzählerin. Gleichzeitig fand ich es aber manchmal auch anstrengend: In meinen Augen kam sie oft nicht richtig auf den Punkt, schweifte lange ab und verlor sich in Nebensächlichkeiten. Mit der unzuverlässigen Erzählweise und der direkten Ansprache haben wir im Übrigen auch hier wieder ein Buch mit deutlichen metafiktionalen Elementen.

What made the tape so special for me was this one particular song: track number three, ‘Never Let Me Go‘.

S. 69

Der Titel des Buchs bezieht sich auf ein Lied, das Kathy in ihrer Jugend immer wieder hört. Sie tanzt dazu allein durchs Zimmer, klammert sich an eine Puppe, und es ist einer der wenigen Momente, in denen sie sich von etwas wirklich getragen fühlt. Das Lied wird zum Symbol für ihre Sehnsucht nach Nähe, nach einem Leben, das nicht von außen bestimmt ist. Für mich einer der stärksten, weil verletzlichsten Momente im ganzen Buch.

Vielleicht war es nicht das richtige Buch zur richtigen Zeit für mich, oder vielleicht liegt es an der Kälte des Szenarios. Mein neues Lieblingsbuch ist Never Let Me Go jedenfalls nicht geworden. Trotzdem hat es mich beschäftigt, berührt und traurig gemacht. Und das ist ja auch schon ziemlich viel.

Die Leseprobe

gibt es hier: 🔗 Leseprobe Never Let Me Go

Über den Autor

Sir Kazuo Ishiguro CH OBE (jap. 石黒一雄 Ishiguro Kazuo) wurde am 8. November 1954 in Nagasaki, Japan, geboren und kam mit fünf Jahren nach Großbritannien. Er ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart und gelegentlich als Drehbuchautor tätig. Seine Werke wurden in mehr als 50 Sprachen übersetzt.

Sein literarisches Debüt gab er 1982 mit A Pale View of Hills, der internationale Durchbruch folgte mit The Remains of the Day (1989), das mit dem Booker Prize ausgezeichnet und später erfolgreich verfilmt wurde. Auch Never Let Me Go (2005) zählt zu seinen bekanntesten Werken und wurde ebenfalls verfilmt.

Im Jahr 2017 wurde ihm der Literaturnobelpreis verliehen. Die Jury hob dabei hervor, dass er in seinen Romanen „von großer emotionaler Kraft den Abgrund unter unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt bloßgelegt“ hat.

Kazuo Ishiguro lebt mit seiner Familie in London.