Diesmal stand in unserem Buchclub ein etwas anderes Buch zur Diskussion: Das Labyrinth der Einsamkeit, ein 1950 erschienener Essay-Band, der sich allein in Mexiko mehr als eine Million Mal verkauft hat und zu einer der erfolgreichsten mexikanischen Publikationen zählt.
In der deutschen Übersetzung ist dem Essay eine Einführung vorangestellt, gefolgt von neun Kapiteln sowie einem zehnten, das Paz im Herbst 1969 speziell für die deutsche Ausgabe geschrieben hat. Die einzelnen Kapitel umfassen jeweils durchschnittlich zwanzig Seiten, doch sollte man sich davon nicht täuschen lassen. Denn jedes Kapitel quellt vor Informationen über, enthält Verweise auf andere Schriftsteller, auf historische Personen und Geschehnisse. Deshalb empfehle ich jedem, der den Essay lesen möchte, dies mit viel Ruhe zu tun. Besonders wenn du noch kein oder wenig Vorwissen hast, ist es sinnvoll, wenn du dir viel Zeit zum Verstehen und Recherchieren nimmst.
Die Themen
Was macht „den Mexikaner“ aus, was ist „Mexikanität“? Das ist die zentrale Frage, mit der sich der Essay beschäftigt.
Die Geschichte des Mexikaners ist die eines Menschen, der nach seiner Herkunft, seinem Ursprung sucht.
S. 29
Paz argumentiert, dass sich Mexikaner durch Gläubigkeit, Verschlossenheit, Minderwertigkeitsgefühl, Misstrauen, Argwohn und Einsamkeit auszeichnet. Seinem Eindruck nach sei der Mexikaner ein Wesen, das sich verschließt, verwahrt, hinter Masken versteckt, die nur selten abgelegt werden, und ein Wesen, das das Leben als Kampf begreift.
Denn alles, was der Mexikaner heute ist, kann man folgendermaßen zusammenfassen: Er will oder wagt nicht, er selbst zu sein.
S. 77
Mexikaner seien auf der Suche nach einer künstlerischen Form, die ihrem Wesen entspricht, doch haben sie diese noch nicht gefunden. „Wir Mexikaner haben keine Form geschaffen, die Ausdruck unserer selbst wäre“ (S. 165), erklärt Paz. Das läge vor allem an der Kolonialisierung durch die Spanier und den dadurch importierten Ideen. Doch scheint die Lage komplexer zu sein, denn:
Der Mexikaner will weder Indio noch Spanier sein; ebenso will er von ihnen abstammen.
S. 90
Und trotzdem, erläutert Paz, leben im mexikanischen Volk sowohl abendländische Formen als auch indianische Sitten und Glaubensvorstellungen weiter, wobei der Katholizismus die alten Glaubensvorstellungen überdecke (vgl. S. 108). Eine spanische Tradition lasse sich nicht leugnen. Paz schließt seinen Essay mit der Aufforderung, sich anderen, vor allem lateinamerikanischen Kulturen zu öffnen, Allianzen zu schaffen anstatt in Einsamkeit zu verharren.
Der Schreibstil
Paz untermalt seine Argumente anhand vieler Beispiele. Vor allem fallen die häufigen Wiederholungen auf, die er wählt, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. Ein anderes Mittel der Wahl zur Verdeutlichung von Argumenten ist das Gegenüberstellen: Alte kulturelle Einflüsse gegen neuere, gegen den Katholizismus der Spanier. Oder Mexikanität in Abgrenzung einerseits zu dem Wesen der Amerikaner, andererseits in Abgrenzung zu Europa. An anderer Stelle wiederum versucht er die Einzigartikeit des mexikanischen Volkes herauszustellen:
Denn das, was uns von andern Völkern unterscheidet, ist nicht immer die fragwürdige Ursprünglichkeit unseres Nationalcharakters (der vielleicht eine Frucht ständig wechselnder Umstände ist), sondern die unserer schöpferischen Leistungen.
S. 21
Ein weiterer Gegensatz, der wiederholt thematisiert wird, ist der von Mann und Frau: „Der ‚chingón‘ ist der Mann, der öffnet, die ‚chingada‘ das Weib, das passiv und schutzlos nach außen ist“ (S. 81), wobei das Verb „chingar“ bedeute, Gewalt anzuwenden; ein Verb, das Männlichkeit, Aktivität und Grausamkeit ausdrücke. Hier wiederum wird auch eine Brücke zur Verschlossenheit des Mexikaners geschlagen, wenn Paz erklärt, dass jede Öffnung des Wesens eine Beeinträchtigung der Männlichkeit bedeutet (vgl. S. 38).
Obgleich der Essay mehr als 70 Jahre nach dem ersten Erscheinen mit einigen Aussagen, zum Beispiel die moderne Massengesellschaft sei eine Ansammlung von Einsamen (vgl. S. 54), Aktualität beweist, kann man nur hoffen, dass das Frauenbild ein Update erhalten hat. Paz schreibt:
Die Frau ist eine gezähmte Bestie, die von Geburt her unzüchtig und sündig ist, die man mit dem Stock unterwerfen und am „Zügel der Religion“ halten muß.
S. 43
An anderer Stelle heißt es konkret, die Frau sei dem Mann stets „das Andere“, „Gegensatz und Ergänzung zugleich“, „[d]ie Frau ist Objekt, bald kostbar, bald schädlich, doch immer ‚anders‘.“ (S. 191) Auch würden Frauen selbst sich nur als Objekt begreifen, sie seien gespalten: das, was sie wirklich sind, und das, was andere in ihnen sehen. Die Ehe, und in diesem Essay ist die Ehe zwischen Mann und Frau gemeint, sei nicht die Verwirklichung der Liebe, sondern diene nur rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Zwecken. Paz argumentiert, dass deshalb die Beständigkeit der Familie auf der Ehe beruht.
Der Essay schließt mit Aussagen, die nicht unbedingt mit denen der ersten Kapitel zusammenpassen. Hieß es anfangs, dass die Einsamkeit eine mexikanische Eigenschaft sei, schreibt Paz später, Einsamkeit sei eine Grundbedingung menschlichen Daseins.
Die Leseprobe
gibt es hier 🔗 Leseprobe Das Labyrinth der Einsamkeit
Der Autor
Octavio Paz wurde am 31. März 1914 in Mexiko-Stadt geboren. Die Familie Paz ist indianischer und spanischer Abstammung. Der Großvater galt als herausragende Figur des mexikanischen Liberalismus, der Vater war Mitarbeiter des Sozialrevolutionärs Zapata. Mit 17 war er Mitbegründer einer literarischen Zeitschrift und begann gleichzeitig zu publizieren. Sein erster Lyrikband, Luna Silvestre, erschien, als er 19 Jahre alt war. Im Laufe der Zeit erschienen unter seiner Leitung zahlreiche Zeitschriften. Nach seinem Jura- und Philosophiestudium arbeitete er als Lehrer und engagierte sich politisch. Von 1944 bis 1945 hielt er sich als Guggenheim-Stipendiat in San Francisco und New York auf. Ein Jahr später trat er in den Auswärtigen Dienst Mexikos ein und wurde nach Paris entsandt. Hier begegnete er André Breton und arbeitete an surrealistischen Publikationen mit. Im Jahr 1962 wurde er zum Botschafter in Neu-Delhi ernannt, aus Protest gegen das Massaker an demonstrierenden Studierenden in Mexiko-Stadt legte er das Amt 1968 nieder. Ab dieser Zeit lehrte als Gastprofessor in den USA. Im Jahr 1971 kehrte er nach Mexiko zurück, wo er, unterbrochen von Lehrtätigkeiten an nordamerikanischen Universitäten, bis zu seinem Tod am 19. April 1998 lebte. Sein Gesamtwerk wurde 1990 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
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