Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar. Um ehrlich zu sein, fand ich sie bei unserer ersten Begegnung nicht einmal attraktiv.
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Die Vegetarierin spielt in Seoul und erzählt die Geschichte von Yeong-Hye. Mit ihrem Ehemann, einem Büroangestellten, lebt die pflichtbewusste Hausfrau ein unspektakuläres, normales Leben. Nach einem Traum entscheidet sie sich plötzlich, keine tierischen Produkte mehr zu essen – was verheerende Konsequenzen nach sich zieht.
Die Themen
Gewalt, Verzweiflung, Begierde und Macht – im Roman geht es um große Themen. Um eine vegane Ernährung geht es nicht so sehr. Vielmehr ist die vegane Lebensweise der Protagonistin einerseits Ausdruck eines Widerstands gegen gesellschaftliche Normen, andererseits ein Auflehnen gegen menschliche Gewalt an Tieren, das so weit geht, dass sich Yeong-Hye schließlich nur noch von Wasser ernährt, da sie zu einem Baum werden möchte. Menschliche Gewalt spielt allerdings nicht nur in dieser Hinsicht eine Rolle in der Erzählung. Auch die Vegetarierin erfährt Gewalt, und zwar von den Männern in ihrem Leben, von ihrem Vater über ihren eigenen Ehemann hin zu ihrem Schwager. Dabei werden im zweiten Teil nicht nur Schönheit, Körperlichkeit, Kunst und Gewalt in Verbindung gebracht, es werden außerdem diese Fragen aufgeworfen: Wie weit kann man für die Kunst gehen? Wie weit dürfen Künstler für die Kunst gehen? Und inwieweit nutzt In-Hyes Ehemann Kunst als Vorwand, um eine sexuelle Beziehung mit Yeong-Hye einzugehen?
While writing The Vegetarian, I was harbouring questions about human violence and the (im)possibility of innocence. On the reverse side of the protagonist Yeong-hye’s extreme attempt to turn her back on violence by casting off her own human body and transforming into a plant lies a deep despair and doubt about humanity.
Han Kang im Interview mit „The White Review“
Die Dreiteiligkeit des Romans und die damit verbundene dreidimensionale Betrachtung der Protagonistin zeigt, wie unterschiedlich einzelne Personen andere Menschen oder auch Ereignisse wahrnehmen, und was diese mit ihnen machen. Durch die unterschiedlichen Sichtweisen wird außerdem deutlich: Die Erzählung macht Empathie zum Thema, indem sie den Versuch zeigt, die anderen Leute um sich rum zu verstehen – und damit nicht immer erfolgreich sein zu können. Besonders in Bezug auf Yeong-Hye, aber auch auf ihren Schwager, wird die Frage verhandelt, was Wahnsinn und was ein gesunder Verstand sind.
Für mich sticht besonders der Kontrast zwischen den Frauen- und Männerfiguren im Roman heraus. Während die Männerfiguren es sind, die mit Gewalt in Verbindung gebracht werden, sind die Frauenfiguren weicher gezeichnet.
Der Schreibstil
Die Geschichte wird in drei Teilen erzählt, die sich jeweils auf eine andere Person in Yeoung-Hyes Umfeld konzentrieren: Im ersten Teil wird aus der Sicht ihres Mannes erzählt, im zweiten steht der Ehemann ihrer Schwester, der als Videokünstler arbeitet, im Mittelpunkt und im letzten Teil schließlich ihre Schwester, In-Hye. Im Gegensatz zum ersten Teil werden der zweite und dritte Teil nicht aus der Sicht der jeweilig im Fokus stehenden Personen erzählt. Im gesamten Buch ist der Erzählstil sehr klar, ohne Ausschmückungen, und dabei ist die Geschichte nicht nur ungewöhnlich, sondern auch sehr bewegend.
Die Leseprobe
gibt es hier: 🔗 Leseprobe Die Vegetarierin
Die Autorin
Han Kang wurde 1970 in der südkoreanischen Stadt Gwangju geboren und wuchs ab ihrem zehnten Lebensjahr in Seoul auf. Später studierte sie koreanische Literatur an der Yonsei Universität, 1993 debütierte sie als Dichterin in der Winterausgabe von Munhak-gwa-sahoe 문학 과 사회 (Literatur und Gesellschaft). Seit 1994 veröffentlicht sie Romane. Mit Rotes Segel (붉은 닻 Bulgeun Dat) gewann sie im selben Jahr den Literaturpreis der Zeitung Seoul Shinmun. Seitdem erschienen regelmäßig Erzählungen von ihr, wovon jedoch bisher nur eine Handvoll ins Deutsche übersetzt worden ist. Darunter: Die Vegetarierin, in Korea 2007, in Deutschland fast zehn Jahre später im Jahr 2016 erschienen. Für ihre Werke gewann sie bereits mehrere Preise, für Die Vegetarierin beispielsweise unter anderem den Man Booker International Prize im Jahr 2016. Letztes Jahr wurde sie als fünfte Schriftstellerin für das norwegische Projekt „Future Library“ (norwegisch „Framtidsbiblioteket“) ausgewählt. Bei dem Projekt werden jedes Jahr Texte ausgesuchter Schriftsteller gesammelt, die im Jahr 2114 veröffentlicht werden. Kang hat dafür den Text Dear Son, My Beloved beigesteuert. Aktuell unterrichtet Kang kreatives Schreiben am Kulturinstitut Seoul.
Das Extra
Im Jahr 2009 wurde der Roman unter dem Titel 채식주의자 (Vegetarian) als erotisches Horror-Drama von Lim Woo-Seong verfilmt. Der Film wurde im Februar 2010 veröffentlicht und erhielt eine Einladung zur World Cinema Narrative Competition des Sundance Film Festivals.
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