An dieser Stelle gab ich auf, es wurde mir zu blöd. Der Plot hatte nicht das Geringste mit der Realität zu tun. Aber was ist Realität? Diese Frage stürzte mich nur noch mehr in Verwirrung. Die Realität ist stumpf und schwer wie ein randvoll mit Sand gefüllter Pappkarton, und sie ist unsinnig.
S. 377
Mit Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt befindet sich der Leser in einer futuristischen Welt, in der Kalkulatoren, angestellt beim Datenschutzunternehmen „System“, und Semioten, die zur „Fabrik“ gehören, um Daten kämpfen. Zumindest im ersten Erzählstrang, „Hard-Boiled Wonderland“. Der 35-jährige Protagonist, der namenlos bleibende Ich-Erzähler, ist beim System angestellt und erhält eines Tages von einem betagten Wissenschaftler den Auftrag, Daten zu shufflen, also auf eine spezielle – und nicht ohne Erlaubnis durchzuführende – Art zu verarbeiten. Dabei kommt es jedoch zu Komplikationen, bei denen die Enkelin des Wissenschaftlers dem Protagonisten zur Seite steht.
Im zweiten Erzählstrang „Das Ende der Welt“ tritt ein weiterer namenloser Ich-Erzähler auf, jedoch befindet sich dieser in einer anderen Welt. Er kommt in eine von einer Mauer umgebene Stadt, die ebenfalls ungenannt bleibt, und lernt nach und nach die Gepflogenheiten der dort lebenden Menschen kennen. Damit er sich in der Stadt aufhalten darf, muss er als erstes seinen Schatten abgeben, und künftig den ihm zugeteilten Job erledigen. Es zeigt sich: Mit dem Verlieren des Schattens gehen den Bewohnern ihre Erinnerungen und Gefühle abhanden – ihre Seele.
Beide Erzählstränge werden abwechselnd erzählt, und nach und nach wird deutlich, dass und wie sie zusammenhängen.
Die Themen
Realität und Fiktion, die Rolle des Bewusstseins und des Gewissens, Medizinethik und Wissenschaftskritik, Erinnerung und Identität, die Rolle von Literatur und die Funktion von Schriftstellern: All diese Themen hinterfragt und wirft der Roman auf. Werden die medizinethischen Fragen eher im ersten Erzählstrang aufgeworfen, geht im zweiten Erzählstrang menschlicher zu. Dort geht es zum Beispiel um das Ideal einer vollkommenen Welt, einer Welt ohne Schlechtes, ohne Hass, ohne Begierde, ohne Kampf. Doch macht die Erzählung deutlich: „Es gibt keine Vollkommenheit auf dieser Welt“, wie der Schatten seinem Besitzer erklärt. „Gerade weil es Verzweiflung, Enttäuschung und Trauer gibt, entsteht Freude. Ohne Verzweiflung kann es auch kein Glück geben.“ Der Roman gibt außerdem eine Antwort darauf, wie Zufriedenheit erreicht werden kann:
Wenn man etwas erreichen will, stellt man sich ganz natürlich immer dieselben drei Fragen: Was habe ich zu diesem Zweck bereits getan? Wo befinde ich mich zurzeit? Was habe ich noch zu tun? Wenn einem diese drei Wegmarken genommen werden, bleiben nur Unsicherheit, Angst und Erschöpfung.
Mit den intertextuellen Verweisen, dem Verhandeln der Rolle von Literatur, dem Ausloten des Verhältnisses von Fiktion und Realität und dem Einbezug des Lesers, selbst zu entscheiden, was in der erzählten Welt Realität und was Fiktion ist, ist dieses Buch zudem höchst metafiktional – keine Seltenheit in Murakamis bisher erschienenen Romanen.
Der Schreibstil
Mit den Einhörnern, Semioten, Schwärzlingen und Parallelwelten handelt es sich bei Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt um einen fantastischen Roman. Dabei ist der Schreibstil recht schnörkellos, schlicht im Ausdruck, ohne überflüssiges Beiwerk. Und doch: Murakami baut komplexe fantastische Welten und schreibt Romane, die fesseln. Für mich ist es bei diesem Buch die Kombination aus fantastischer Welt, Interesse an den Ich-Erzählern und an der raffiniert-überraschenden Verbindung beider Erzählstränge, die mich das Buch kaum weglegen lassen. Daneben fallen immer wieder die westlichen Einflüsse auf das Werk aus Japan auf, zum Beispiel wenn der französische Schriftsteller Stendhal (1783-1842) in der Erzählung genannt wird.
Die Leseprobe
gibt es hier: 🔗 Leseprobe von Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Der Autor
Haruki Murakami wurde 1949 in Kyōto geboren und ist einer der bekanntesten und beliebtesten japanischen Autoren seiner Generation. Er ist in Kobe aufgewachsen und hat später in Tokyo an der Waseda-Universität studiert. Nach dem Studium hat er eine Jazz-Bar eröffnet, die er sieben Jahre lang mit seiner Frau geführt hat. Sein erster Roman Wenn der Wind singt erschien 1979. Seitdem erschienen regelmäßig Romane und Erzählungen, aber auch Sachbücher und Essays von ihm. Auf seiner Website nennt er Raymond Chandler, Kurt Vonnegut und Richard Brautigan seine Einflüsse, aber auch Franz Kafka und Fjodor Michailowitsch Dostojewski haben seine Arbeit erkennbar beeinflusst. Für seine Werke, die in mehr als 50 Sprachen übersetzt wurden, erhielt Murakami bereits mehrere nationale und internationale Auszeichnungen und Preise. In Deutschland werden Murakamis Romane vom Verlag DuMont herausgebracht. Außerdem gehört Murakami zu meinen Lieblingsschriftstellern.
Gepostet von Haruki Murakami am Samstag, 17. Dezember 2011
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