Erzählen, Sprache und Schriftstellerdasein in Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ (1917)

Erzählen, Sprache und Schriftstellerdasein in Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ | Prosa & Papier

Kafka’s writing is subtle, multi-layered, and allusive. His allusions, however, are not coded Messages, but more like a delicate web which surrounds the central images of his stories, extending and Controlling their implications.

Robertson ix

Einleitung

Die im November 1917 in der Monatsschrift Der Jude von Martin Buber (Bruce 130) erschienene Tiergeschichte (Robertson 164) lässt, wie so viele Schriften Franz Kafkas, diverse Deutungen zu. Das Interesse der Forschung an diesen Deutungen ist bis heute ungebrochen. Iris Bruce (134-135) verweist auf die zeitgenössische Lesart von unter anderem Max Brod, die auf eine Karikatur und Satire assimilierter Juden hinausläuft, sowie auf jüdischen Selbsthass und jüdischen Antisemitismus verweist. Gleichermaßen argumentiert Robertson (164): „in January 1918 Brod declared that Ein Bericht für eine Akademie was the most brilliant satire ever written on Jewish assimilation.“. Wie Bokhove (53) und andere festhalten, bestand nicht nur Kafkas Freundeskreis aus Juden, er nahm durchaus auch an zionistischen Treffen teil und setzte sich auf verschiedene Arten mit dem Judentum auseinander. Für Gerhard Neumann (275) erscheint der Bericht „als eines der großartigsten poetischen Zeugnisse des 20. Jahrhunderts, weil er drei für das Verstehen unserer Kultur zentrale Fragen miteinander verbindet: die Frage nach dem Denken von Ursprung; die Frage nach der Herstellung von Individualität; und schließlich die Frage nach der Funktion des kulturellen Gedächtnisses bei der Verknüpfung von Ursprungsdenken und Konzeptualisierung von Individualität in der Gesellschaft.“ Schließlich erscheint von Clayton Koelb sogar A Guide for the Perplexed (2010), in dem er auf die negativen Aspekte der Menschwerdung Rotpeters aufmerksam macht (Koelb 129).

Die exzessive Forschung an Kafkas Texten beweist, dass es dem Autor gelingt, mit seinem Publikum eine Verbindung aufzubauen, die ein jahrzehntelanges Interesse zur Folge hat. Inwiefern das rhetorisch gelingt, welche intertextuellen Verweise sich auffinden lassen und welche Alternativdeutung der Text dadurch zulässt, soll im Folgenden betrachtet werden.

Ein Bericht für eine Akademie (1917)

Kulturhistorischer Hintergrund

Inmitten des Ersten Weltkriegs erscheint Kafkas Bericht. Jedoch nicht nur der Krieg ist hochaktuell, auch der Antisemitismus wird größer, und die Forderung nach einem Judenstaat ist noch immer aktuell; Wagner (224) verweist auf Kafkas Kenntnis von Theodor Herzls Judenstaat. In Zeiten kritischer gesellschaftlicher Zustände und Umbrüche erscheint nun Kafkas humoristischer Bericht, in dem Felix Weltsch (94) „ein Antibiotikum gegen den Haß“, das „den Menschen [bessert]“, „Distanz und – Luft [schafft]“ sieht.

Der Erzähler

Noch vor dem Kennenlernen des Erzählers sieht sich der Leser mit dem Titel der Erzählung konfrontiert. Als Paratext im Sinne von Gérard Genette (11) erweist sich der den Erwartungshorizont des Lesers lenkende Titel als durchaus interessant. Ein Bericht erweckt beim Leser die Erwartung einer sachlichen, nüchternen Mitteilung einer Tatsache, gar einer wahren Begebenheit. Innerhalb eines fiktionalen Textes eines realen Dichters also wird die Schilderung wahrheitsgemäßer Aussagen erwartet, die, so zeigt der zweite Teil des Titels, an eine Akademie gerichtet ist. Durch diese Präzisierung wird die Erwartung wahrer, ernstzunehmender Begebenheiten noch einmal verstärkt, da an eine wissenschaftliche Gesellschaft gerichtete Schriften nun eher selten, außer im Rahmen einer Ausschreibung kreativen Schreibens, nicht der Wahrheit entsprechen.

Bereits im ersten Satz jedoch lässt sich erahnen, dass es sich nicht um einen konventionellen, das heißt menschlichen, Erzähler handelt. Wird bestenfalls beim Erwähnen des äffischen Vorlebens (Kafka 299) gestutzt, ist schnell klar, dass es sich nicht um einen menschlichen Erzähler handelt, sondern tatsächlich um einen Affen, der sich im Laufe eines nicht allzu lang andauernden Prozesses menschliche Gesten, Verhaltensweisen und Bildung angeeignet hat. Im Sinne der Leserwartung wird im Folgenden tatsächlich ein Bericht über die Vergangenheit und den Werdegang Rotpeters gegeben.

Sprache und Schriftstellerdasein

Selbsterklärend hat dabei Sprache als Medium einen bedeutenden Stellenwert. Aber nicht nur als solches ist sie relevant, sie ist sogar Teil der Nationenbildung in Deutschland: „Das allgemeine Verständnis der Nation als einer Kultur- und Sprachgemeinschaft geht auf die Idee Herders zurück“ (Haring 32).

Die genauere Betrachtung der Wahl des Affen als Tiers fällt besonders auf und ist in zweierlei Hinsicht von Interesse. Nicht nur wird hier angeknüpft an Evolutionstheorie, allen voran natürlich Charles Darwin, zugleich lässt sich eine interessante Parallele zu E. T. A. Hoffmann aufzeigen: In Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen (1819) wird im Erwartungsrahmen des Lesers ein in einer märchenhaften Welt situiertes missgestaltetes Männchen, Klein Zaches, mittels eines Zaubers zu Zinnober, einer Person, die der Gesellschaft, bis auf einige Ausnahmen, wie ein völlig Anderer vorkommt. Aus der missgestalteten, sich unschicklich benehmenden Gestalt wird durch den Zauber der Fee Rosabelverde Zinnober ein schöner junger Mann, der jeglichen Erfolg seiner Umwelt annehmen kann. Bereits zu Beginn des Märchens wird Zaches Wechselbalg genannt. Durch die Bezeichnung Wechselbalg kommt ihm ein Bezug zum Teufel zu, der, Peter von Matt zufolge, eine Denkfigur des Intriganten darstellt. Im Verlauf der Erzählung wird Zaches nicht nur mit dem Teufel, sondern auch mit einem Affen nicht nur in Verbindung gebracht, sondern letztlich auch mit diesem gleichgesetzt: er wird bezeichnet als „Mycetes Bezebub – Simia Belzebub Linnei – niger, barbatus, podiis caudaque apice brunneis – Brüllaffe“, als Affe, als der er von den „Fremde[n], die das Kabinett besehen“ wird (Hoffmann 81). Wird der Affe als Affe begriffen und nicht als assimilierter Jude gelesen, wird durch die Verbindung von Affe, Teufel, Betrug und Intrige also bildlich und sprachlich das ‚als ob‘ des Affen thematisiert, der Affe als Mensch, bei dem jedoch nicht klar wird, in welchem Sinne er Mensch geworden ist und wodurch sich das festmachen lässt. Obgleich er von seiner Umgebung als Mensch wahrgenommen wird, hat er durch sein „äffisches Vorleben“ (Kafka 299) einen ‚Zwischenstatus‘ inne. Bereits die Forderung der Akademie, sein Dasein rechtzufertigen, zeigt, dass sein Status als Mensch noch nicht völlig angenommen wurde. Zusätzlich ist hierin eine Abgrenzung zu Kafkas Die Verwandlung von 1915 zu begreifen, indem im Bericht keine totale Metamorphose, sondern lediglich eine Übernahme von Gewohnheiten beschrieben wird. In diesem Sinne würde der Affe zum Betrüger, sogar zum Intriganten, der mittels eines Plans versucht, ein gesetztes Ziel zu erreichen. Dieses Ziel ist in diesem Fall nicht Freiheit, sondern ein Ausweg. Wird dieses ‚als ob‘ des Affen übertragen auf die Interpretation des Affens als Jude, wird hier mit dem Bild vom Juden als „Betrüger“ gespielt, der, antisemitischen Äußerungen nach, die Deutschen so gut kopiert, dass er von diesen nicht mehr unterschieden werden kann. Diese Lesart unterstützt erneut eine Interpretation des Affen Rotpeter als Karikatur des assimilierten Juden nach Bruce (130). Sie verweist außerdem darauf, dass die Herkunft des Affens von der Goldküste insofern von Bedeutung sei, als dass sich hier ein Wortspiel verstecke, das darauf anspiele, dass viele jüdische Familiennamen „gold“ in sich tragen. Ebenso sei die Verwendung des Wortes „stamme“ im Sinne von ‚von woher kommen‘ als Hinweis auf das Nomen ‚Abstammung‘ oder gar auf die Abstammungslehre zu lesen (Bruce 130). Ein weiterer, wenn auch weniger bedeutender Bezug zum Märchen vom Klein Zaches lässt sich wiederum durch den Affen herstellen, indem das Tier als Akteur in Fabeln sowie in Märchen zu erwarten ist, nicht jedoch in einer Schilderung wahrer Gegebenheiten, wie der Titel vermuten lässt. In diesem Sinne spielt auch hier der Autor mit Lesererwartungen im Rahmen paratextueller Verweise, und knüpft an Hoffmanns literarische Verfahren an.

Neben intertextuellen Verweisen auf E. T. A. Hoffmann lassen sich im Bericht Parallelen zu Heinrich von Kleist ziehen. „Nach einigen Schüssen erwachte ich“ (Kafka 302) heißt es im Bericht. Was ist passiert? Der von der Goldküste stammende Rotpeter fiel nach zwei Schüssen in Ohnmacht, während welcher er in „einem Käfig im Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers“ (Kafka 302) landete. Diese Ohnmacht markiert nicht nur eine Leerstelle im Text und im Gedächtnis Rotpeters, sondern ist zugleich Ausgangspunkt folgenreicher und die Erzählung erst auslösender Ereignisse. Ohnmachten, in denen für den Protagonisten oder die Protagonistin Entscheidendes geschieht, finden sich vor allem in Kleists literarischem Werk. Gleichermaßen gestaltet sich das ‚als ob‘ des Berichts, Rotpeters, als ob er Mensch sei. Dieses ‚als ob‘ hat in Bezug zu Kleist wiederum Verweischarakter auf die Werke Kants und Schillers über die Wahrnehmung der Welt, die Wahrhaftigkeit und den Schein von Objekten und inwiefern und wenn, wie, der Mensch diese Objekte als solche sehen, begreifen und verstehen kann.

Den dritten Anknüpfungspunkt an die deutsche Literatur liegt in der „Aufnahme in die Menschengemeinschaft“ Rotpeters „mit dem ersten menschlich artikulierten Wort“ (Haring 71) einhergeht. Hierin lässt sich an Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) anschließen.

Schlussfolgerungen

Das Besondere des Berichts liegt zweifelsfrei in seiner Rhetorik und sprachlichen Struktur. Durch Worte wie „Affentum“ und „äffisch“ (Kafka 299) und ihren durch das Vorwissen über den Autor als Jude bedingte Assoziationen mit Judentum und jüdisch, ist eine erste Deutung Rotpeters als assimilierten Juden schnell ermöglicht. Wie so viele Texte aber, und vor allem die Texte Kafkas, lässt der Bericht mehrere Deutungen zu. Ein genauer Blick auf die Rhetorik, Struktur, das Spiel mit Lesererwartungen und eine hermeneutische Lesart des Textes bringen mehrere Verstehensweisen des Texts zum Vorschein.

Anlass des Berichtschreibens ist die Aufforderung der Akademie, im weitesten Sinne eine Rechtfertigung abzuliefern. Was sich hier zeigt, ist die Unsicherheit einer Partei gegenüber einer anderen Partei, einer Unbekannten, deren Merkmale, Verhaltensweisen, und sogar Charaktereigenschaften in einem solchen Sinne zum Nachfragen anregen, sodass nach einem Bericht verlangt wird. Indem der Leser sich mit einem jüdischen Schriftsteller konfrontiert sieht, liegt nahe, eine Auseinandersetzung von Juden und Deutschen miteinander, aber auch von ost- und westeuropäischen Juden untereinander darin zu lesen, wie beispielsweise Haring (70). Liest man Akademie, bietet es sich darüber hinaus an, die Anpassung angehender Akademiker an das tatsächlich wissenschaftliche Leben und Vorgehen, auch in seinen Nachteilen, zu deuten.

Letztlich ist der Text ein Bericht über eine Identität, und indem dem Leser dieser Bericht nicht nur mittels Sprache, sondern durch geschriebene Sprache nahe gebracht wird, kann hierin auch die Rechtfertigung eines Dichters und seines Schreibens gelesen werden. Denn der Bericht kann, nach Haring (71), als Beispiel dafür gelten, „wie ein hochrangiger Schriftsteller der politischen Forderung nach einem jüdischen Palästina nicht bedingungslos verfällt und – im Unterschied zu vielen seiner Freunde – nicht bereit ist, den ästhetischen Wert seiner Prosa den politischen Interessen zu opfern.“ Die diversen Anspielungen und intertextuellen Verweise legen nahe, in dem Bericht zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Schriftstellerdasein zu lesen. Wird nun der Bezug zur Freiheit einbezogen, zeigt sich: Ebenso wie Rotpeter keine Freiheit erlangen kann und sich von der Vorstellung gelöst hat, diese zu erreichen, muss auch der Schriftsteller erkennen, dass, welchen Antrieb auch immer er zum Schreiben hat, dieser nicht durch den Schreibprozess plötzlich besiegt oder gestillt werden kann, sondern lediglich einen Ausweg aus beispielsweise persönlichen Krisen sein kann. Die Gegenüberstellung von „Affenwahrheit“ und „Menschenworten“ (Kafka 303) lässt sich dann lesen als Übersetzungsprozess von inneren Gedanken und Emotionen in geschriebene Sprache, als das, was vermittelt und verstanden werden kann, womit sich mit anderen ausgetauscht und wodurch sich präsentiert und ausgedrückt werden kann, als das, was anschlussfähig ist.

––  „ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur“ (Kafka 313)


Bibliografie:

Primärliteratur

Herder, Johann Gottfried. Abhandlung über den Ursprung der Sprache. München: C. Hanser, 1978.

Hoffmann, E.T.A. Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen. Stuttgart: Reclam, 1985.

Kafka, Franz. Die Verwandlung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999.

Kafka, Franz. „Ein Bericht für eine Akademie.“ Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. Kittler, Wolf, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2002, S. 299-313.

Sekundärliteratur: Bücher

Bruce, Iris. Kafka and Cultural Zionism. Dates in Palestine. Wisconsin: The University of Wisconsin Press, 2007.

Genette, Gérard. Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993.

Haring, Ekkehard W. Auf dieses Messers Schneide leben wir… Das Spätwerk Franz Kafkas im Kontext jüdischen Schreibens. Wien: Wilhelm Braumüller Universitäts-Verlagsbuchhandlung Ges.m.b.H., 2004.

Koelb, Clayton. Kafka: A Guide for The Perplexed. New York: Continuum International Publishing Group, 2010.

Robertson, Ritchie. Kafka. Judaism, Politics, and Literature. Oxford: Clarendon Press, 1985.

von Matt, Peter. Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München: Hanser, 2006.

Weltsch, Felix. Religion und Humor im Leben und Werk Franz Kafkas. Berlin: F. A. Herbig, 1957.

Sekundärliteratur: Beiträge in Herausgeberwerken:

Bokhove, Niels. „‚The Entrance to the More Important.‘ Kafka’s Personal Zionism. Kafka, Zionism, and Beyond. Hrsg. Gerber, Mark H. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2004, S. 23-58.

Neumann, Gerhard. „‚Ein Bericht für eine Akademie‘. Kafkas Theorie vom Ursprung der Kultur. Franz Kafka. Ein Landarzt. Interpretationen. Hrsg. Locher, Elmar und Isolde Schiffermüller. Bozen: StudienVerlag, 2004, S. 275-293.

Wagner, Benno. „‚Ende oder Anfang?‘ Kafka und der Judenstaat.“Kafka, Zionism, and Beyond. Hrsg. Gerber, Mark H. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2004, S. 219-238.