Geld, hätte ich auch darüber zu gebieten, würde dir gar nichts helfen, arme Frau, sondern deinen Zustand vielleicht noch gar verschlimmern. Dir und deinem Mann, euch beiden ist nun einmal Reichtum nicht beschert […]. Aber ich weiß es, mehr als alle Armut, als alle Not, nagt an deinem Herzen, daß du jenes kleine Untierchen gebarst, das sich wie eine böse unheimliche Last an dich hängt, die du durch das Leben tragen mußt. – Groß – schön – stark – verständig, ja das alles kann der Junge nun einmal nicht werden, aber es ist ihm vielleicht noch auf andere Weise zu helfen.
E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen. Stuttgart 1985, S. 7.
Im Jahr 1819 erscheint Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen von E. T. A. Hoffmann. Worum es in diesem romantischen Kunstmärchen geht, ist vielfach in der Forschung dargelegt worden: In einem wirklichkeitsnahen, aber durch das Märchenhafte durchsetzte setting (Wührl 1963), in dem das Phantastische als selbstverständlich angesehen wird (Fritz 1982), werden in Anlehnung an den Goldnen Topf[2] die Dialektik der Aufklärung (Fritz 1982, Knauer 1995) sowie Strukturprobleme der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft (Fuchs 2001) behandelt und die Kunst der Simulation und soziales Rollenspiel dargestellt (Knauer 1995). Herausgelesen werden können neben der Kritik an der Aufklärung auch satirische und ironische Kritik an Wissenschaft und höfischer Gesellschaft sowie deren Machtmechanismen, aber auch das Verhältnis von Natur und Kultur wird verhandelt. Anhand des Märchens lassen sich Fragen nach Fiktion, Fiktionalität und Narration, sowie nach dem Verhältnis von Leser, Erzähler und Autor diskutieren, ebenso wie Fragen nach den Phänomenen Täuschung und Lüge im Verhältnis zum Thema der Macht. In der Erzählung, die verschiedenste Gattungskonventionen in sich aufnimmt (Kremer 2012), fungiert die Figur Klein Zaches also vorrangig als maskierte Kritikübung. Doch welche Stellung hat Klein Zaches, genannt Zinnober, genau, welche Macht hat er über die anderen Figuren, was löst er in ihnen aus und kann die Erzählung als Doppelgängergeschichte gelesen werden?
Zunächst fungieren Szenerie und Handlung in auffälliger Weise und in Tradition der Märchen als Möglichkeit der Kritik. Wie im 17. und 18. Jahrhundert Märchen schon, mithilfe von Anonymisierung von Figuren und räumlichen Gegebenheiten, versteckte Kritik beinhalteten, so wird auch dieses Kunstmärchen zur impliziten Äußerung von Kritik genutzt. Sieht man von dieser Oberfläche ab, zeigt sich allerdings noch mehr. Nach Feldges/Stadler (1984) ist der Feenzauber als Verblendung zu verstehen, und auch Fuchs (2001) sieht Rosabelverdes Feengeschenk lediglich als Illusion und Zaches als Reflexionsfläche der Leben der Anderen. Knauer (1995) entdeckt bei Zaches die Kunst der Simulation, des scheinhaften Überdeckens, eine an Schiller angelehnte Differenz von Schein und Sein, und die Verwischung der Grenzen und Fiktion und Wirklichkeit. Stern (2003) verweist auf Hoffmanns Selbstkommentare und seine in die Figuren projizierte Ich-Spaltung und -Aufteilung. Und auch Kremer (2012) entdeckt Wahn und krankhafte Einbildung im Klein Zaches. Neben kritischen Anmerkungen werden in Hoffmanns Kunstmärchen Subjektivität und Identitätsproblematik subtil zum Thema gemacht. Dabei stehen nicht nur die (tragischen) Konsequenzen für das Ich im Vordergrund, sondern vor allem auch diejenige, die das Umfeld zu tragen hat. Wie diese Thematiken von Subjektivität und Identität behandelt werden und wie Motive der Doppelgängergeschichte im Klein Zaches auftauchen, soll anhand der typischsten Merkmale der Doppelgängergeschichte untersucht werden.
Oppositions- und Kontrastverhältnisse. Das Märchen vom Klein Zaches ist in auffälliger und verschiedenster Weise zweigeteilt. Es stehen sich zwei Welten gegenüber, die Magische und die Alltägliche. Sie sind doppelte Welten, die parallel funktionieren und ineinander geschaltet sind – die eine Welt ist das Andere der anderen Welt, ihre Wirkbereiche sind ineinander verschaltet. Neben der Welt des Magischen und des Realen stehen sich auch die Räume Stadt und Land in einem Oppositionspaar gegenüber. Weitaus interessanter gestalten sich die Figurenkonstellation und die Figuren des magischen Bereichs. Zunächst stehen sich wiederum die Figuren der magischen und der realen Welt gegenüber. Leben sie vor der ausgerufenen ‚Aufklärung‘ noch nebeneinander als gleichwertige Geschöpfe, spaltet sich dieses Verhältnis sogleich mit der neuen Ordnung. Die eine Lebenswelt spaltet sich in zwei. Diese neue Ordnung zwingt diejenigen magischen Wesen, die nicht geflohen sind, dazu, sich mittels Verkleidungen und Verhüllungen sowie Änderung der Namen eine zweite Identität zu verschaffen. So wird aus der Fee Rosabelverde der magischen Sphäre die Spiegelfigur des Fräuleins von Rosenschön, aus dem Magier Prosper Alpanus wird ein Doktor. In ähnlicher Weise wird mit dem menschlichen Klein Zaches verfahren. Mittels Namensänderung sowie Beschaffung neuer Kleider wird aus Klein Zaches Zinnober[3]. Augenscheinlich wird aus der „unselige[n] Mißgeburt“[4], dem „unheimliche[n] Ding“[5], der „böse[n] unheimliche[n] Last“[6] eine „Zierde des Staats“[7] mit „wunderschönen Haaren“[8]. Seine zweite Identität ist dabei allerdings nicht aus äußerem Zwang oder psychischer Verfassung entstanden, sondern sollte als Feengeschenk dem „arme[n] zerlumpte[n] Bauernweib“[9], Zaches‘ Mutter Liese, sowie Zaches selbst[10] zugutekommen. Keine inneren Beweggründe machen also aus Klein Zaches den Minister Zinnober, jedoch verkörpert Zinnober alles, was Klein Zaches nicht ist. Auch auf metafiktionaler Ebene werden Innen und Außen getrennt und zwei Bereiche eröffnet. Die Strategie des Erzählers sieht vor, den Leser in die Geschichte einzubeziehen und ihn zugleich außen vor zu lassen durch die Hervorhebung der Fiktion mittels Leseranreden.
Kunst, Dichter und Glaubwürdigkeit.Innerhalb der Textwelt trifft der Leser auf Balthasar, „einen wohlgestalteten Jüngling von drei- bis vierundzwanzig Jahren, aus dessen dunkel leuchtenden Augen ein innerer reger, herrlicher Geist mit beredten Worten spricht.“[11]. Der melancholische Student ist Dichter und steht mit seinem Dasein und seinen Ansichten für die künstlerischen und philosophischen Wissenschaften und somit der Welt der Naturwissenschaften gegenüber. Der Erzähler, dessen Glaubwürdigkeit allerdings durchaus in Frage gestellt werden kann, gewährt dem Leser mehrfach Einblicke in sein Innen- und Gefühlsleben, im Vordergrund stehen seine Gedanken und seelische Verfassung. Durch diesen Einblick gewinnt das Märchen nicht nur prosaischen Charakter, sondern bezieht sich auf metafiktionaler Ebene auf den gegenwärtigen Subjektivitätsdiskurs. Wird die Figur des Erzählers einbezogen, so wird im Klein Zaches stets die Dialektik von Fiktion und Realität verhandelt – auf textueller Ebene durch den Gegensatz von Phantastik und Realität, denn die Vertreter der Aufklärung glauben nicht an magische Wesen, und auf metatextueller Ebene durch die diversen Leseranreden und die daraus resultierende Hervorhebung der Fiktion als Fiktion.
Alkohol, Frauen und Dazwischen. Gleichermaßen werden auch Alkohol und Frauen im Märchen thematisiert, obgleich auch rauschhafte Zustände keine Rolle bei der Ich-Spaltung beziehungsweise dem Auftauchen des Doppelgängers spielen oder die zentrale Figur in Verbindung mit einer Frau steht. Vielmehr zerbricht Balthasar, „wie vom Wahnsinn plötzlich erfaßt“[12], beinahe an seiner Liebe zu der schönen Candida und an Zinnobers Annahme seiner (vor allem poetischen) Leistungen. Hier zeigen sich die sich auf den seelischen Zustand anderer Personen auswirkenden Konsequenzen der Verdopplung von Klein Zaches. Neben dem bereits im Titel des Märchens genannten Klein Zaches erhält die Geschichte von Balthasar einen großen Anteil im Märchen. Zinnober, als andere Identität von Klein Zaches, tritt im Verlauf der Geschichte beinahe als Spiegelfigur zu Balthasar auf, als er diesem nicht nur seinen literarischen Erfolg nimmt, sondern auch Balthasars Liebe, „des Professors niedliches Töchterlein“[13], heiraten soll. In diesem Sinne fungiert Zinnober nicht nur als temporäre Doppelgängerfigur für Balthasar, sondern auch für andere Figuren, indem ihm, zumindest augenscheinlich, gelingt, was diesen Figuren nicht gelingt – wenn sich dieses Gelingen auch als Schein herausstellt. Der Alkohol, genauer der Wein, ist besonders wichtig für die Figur Mosch Terpin. In ironischem und satirischem Gestus weiß der Erzähler davon zu berichten, dass der an der Universität Kerepes lehrende Naturwissenschaftler, Vater von Candida und Befürworter der Aufklärung
eine Abhandlung darüber [schreibt], warum der Wein anders schmeckt als Wasser und auch andere Wirkungen äußert […]. Zinnober hat es bewirkt, dass Mosch Terpin der Abhandlung wegen alle Tage im fürstlichen Weinkeller studieren darf. Er hat schon einen halben Oxhoft alten Rheinwein, sowie mehrere Dutzend Flaschen Champagner verstudiert, und ist jetzt an ein Faß Alicante geraten. – Der Kellermeister ringt die Hände!
E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober, S. 80 f.
Das Dazwischen lässt sich ausmachen in der Bewegung im Text: Nicht nur springt der Erzähler zwischen Innen und Außen der Erzählung, auch innerhalb des Textes wird sich ständig zwischen den Welten bewegt, zwischen den Zeiten, zwischen Hell und Dunkel[15], in der Morgendämmerung, also in dem Zwischen von Tag und Nacht.
Spuk, Schatten und Teufel. Diese Merkmale treten am deutlichsten hervor. Die Entstehung einer gleichermaßen zweiten Identität bei Klein Zaches, indem er zu Zinnober wird, geschieht nun nicht aus seelischer Verfassung, Ich-Gespaltenheit, Wahn, Rausch oder anderen inneren Antrieben – nicht zuletzt, da er bei Erhalt des Feengeschenks noch ein kleiner Junge ist. Es ist schließlich die Fee Rosabelverde, die ihn mit einem Zauber belegt. Dieser gutgemeinte Zauber wird nach den ersten fatalen Folgen für andere Figuren nun zum „verfluchte[n] Hexenspuk“[16], oder auch „Zinnobers seltsamer Spuk“[17], „verruchter Zauber“[18], der nur mithilfe des Magiers Prosper Alpanus gebrochen werden kann. Einem ähnlichen Phänomen wie dem Schatten begegnet der Leser vor allem im fünften Kapitel, als sich Balthasar und Fabian im Hause Prosper Alpanus‘ aufhalten. Balthasar wechselt vom Hell in dicke Finsternis, und befindet sich zwischenzeitlich im magischen Halbdunkel. Eine Anspielung auf den Teufel und den für die Doppelgängergeschichte relevanten Teufelspakt findet sich im Ausdruck Wechselbalg, mit dem Klein Zaches mehrfach belegt wird.[19] Als Wechselbalg definiert der Duden ein „(nach früherem Volksglauben einer Wöchnerin von bösen Geistern oder Zwergen untergeschobenes) hässliches, missgestaltetes Kind“[20], das vor allem im Mittelalter mit dem Teufel assoziiert worden ist. In diesem Sinne ist jedoch noch viel bedeutender, dass Zinnober bezeichnet wird als „Mycetes Belzebub – Simia Belzebub Linnei – niger, barbatus, podiis caudaque apice brunneis – Brüllaffe –“[21], im siebten Kapitel, als der Aufseher des Kabinetts fremden Besuchern Zinnober als Brüllaffe, als Mycetes Belzebub vorstellt. Mit der Bedeutung von Beelzebub als „oberster Teufel (im Neuen Testament und im Judentum)“[22] wird also in doppelter, mehr oder weniger expliziter Weise die Verbindung zur Teufelsgestalt hergestellt.
Geld, Ökonomie und Macht. Dem vorangestellten Zitat kann die Verbindung zum Thema Geld und Ökonomie entnommen werden. Das erste Leid, das Klein Zaches in seinem Leben verursacht, ist sein Dasein als Last für seine Familie. Gleich zu Beginn des Märchens klagt die Mutter Liese vom Verlust ihres Hauses und der Scheune, vom Raub ihres Geldes. Wenngleich die Fee nicht in der Lage ist, ihr finanziell zu helfen, beschert sie Lieses Kind ein schönes Äußeres, wodurch sich der Pfarrer des Jungen annimmt, und Liese finanziell entlastet ist. Am Ende, als Zinnober schließlich kläglich im Nachttopf stirbt, mutet es merkwürdig an, dass seine Mutter Liese darum besorgt ist, nun nichts mehr erben zu können. Sie wird wiederum mit einer Feengabe ausgestattet, indem ihre Zwiebeln eine ähnliche magisch-wunderbare Ausstrahlung erhalten und ihr so in finanzieller Hinsicht weitergeholfen ist. In ihrer Position als Bäuerin ist Liese aber außerdem vom universitären Leben in Kerepes ausgeschlossen, sie lebt in einer prekären, in einer Randsituation. Mit seinem ärmlichen Familienhintergrund und seiner äußeren Gestalt ist Klein Zaches eine Zukunft unter sozialem und gesellschaftlichem Ausschluss vorausbestimmt. Lediglich durch den Feenzauber gelingt es Zaches, als Zinnober und mit einer neuen Identität, einen bedeutenden Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Mithilfe des Zaubers erhält Zaches nicht nur einen neuen Namen und neue Kleider, sondern auch mehr und mehr Macht. Das Thema des Kampfes wird im Märchen auch thematisiert: Noch vor Zinnobers Ankunft in Kerepes treffen Fabian und Balthasar auf den „kleinen wunderlichen Knirps“[23]. Im Wald, als Gegensatz zur Stadt, in der beinahe alle Figuren vom Zauber der Fee geblendet werden und in Zinnober einen schönen Jüngling erkennen, dient Zinnober noch der Belustigung Fabians, als er in Folge eines unglücklichen Falls von seinem Pferd an den Stiefeln mitgezogen wird. Erbost von Fabians Gelächter fordert Zinnober diesen zum Kampf heraus: „ich bin Studiosus, und wenn Sie desgleichen sind, so ist es Tusch, daß Sie mir wie ein Hasenfuß ins Gesicht lachen, und Sie müssen sich morgen in Kerepes mit mir schlagen!“[24]
Identität, Wahn und Spiegel. Das Thema der Identität wird vor allem mittels der Figur des Klein Zaches thematisiert. Identität, vor allem soziale und gesellschaftliche Identifikation, wird im Märchen vorrangig mit dem Namen und mit Kleidung in Verbindung gebracht. Dabei fällt vor allem die wiederkehrende Thematisierung der Kleidung auf. Neben Zinnobers neuer und sich stetig verbessernder Kleidung sind dabei die Gewänder der magischen Wesen, der Fee und des Magiers, interessant. In der magischen Sphäre erscheint Prosper plötzlich gehüllt in „ein langes erdgelbes indisches Gewand und kleine rote Schnürstiefelchen“[25], in einer kurz darauf folgenden Situation „ganz weiß gekleidet wie ein Brahmin“[26]. Obgleich solche Kleidungswechsel innerhalb der Gattung Märchen nicht verwundern, trägt er dennoch karnevaleske Züge. Ins Groteske gezogen wird das Ganze bei Zinnober, als seine Kleidung von einem Theaterschneider angepasst werden muss, da die Uniform nicht mit seinem Körperbau vereinbar ist. Im neunten Kapitel schließlich wird die durch René Descartes angestoßene Leib-Seele-Problematik aufgegriffen, die der Leibarzt beim Tod Zinnobers in groben Zügen darlegt. Der Wahn tritt jedoch nicht als Auslöser oder Begleiterscheinung einer Ich-Dissoziation auf, sondern als Konsequenz der Präsenz von Klein Zaches‘ zweiter Identität. So wird Balthasar fast wahnsinnig und auch als Zinnober als Mycetes Belzebub, als Brüllaffe, bezeichnet wird, heißt es: „‚Herr‘ – prustet nun der Kleine den Aufseher an, ‚Herr, ich glaube Sie sind wahnsinnig oder neunmal des Teufels, ich bin kein Belzebub caudaque – kein Brüllaffe, ich bin Zinnober […]‘.“[27] In der Mitte des Märchens, im fünften Kapitel steht der Spiegel im Zentrum. Bei Balthasars und Fabians Besuch bei Prosper Alpanus führt der Magier Balthasar in einen Raum und bittet ihn, vor einen „großen runden Kristallspiegel“[28] zu treten und mit Willenskraft seiner Seele die Gedanken auf Candida zu richten. Damit bewirkt er, dass sie erscheint – dabei „[wallte] ein bläulicher Duft aus dem Spiegel“[29], das Bild zerrinnt jedoch mit einer heftigen Bewegung Zinnobers „in Dunst und Nebel“[30]. Spiegelbildlich scheint auf metatextueller Ebene auch die Struktur des Märchens. Durch die zwiebelförmige (Kremer 2012) beziehungsweise ringförmige (Uhlmann 2011) Struktur des Textes entsprechen sich die Kapitel strukturell und werden somit gleichsam gespiegelt.
In romantischer Tradition wird sich auch im Klein Zaches der inneren Natur des Menschen hingewandt, die Beweglichkeit von Phantasie und Reflexion thematisiert, das Irrationale aufgewertet, und auf ironische Weise der ambivalente Charakter der Epoche gespiegelt.[31] Im Märchen wird nicht nur das Spießbürgertum karikiert und der Glaubensgehalt des Phantastischen infrage gestellt, sondern vor allem durch den als unzuverlässig erscheinenden Erzähler auch subjektive Einschätzung gefordert.
Klein Zaches ist keine klassisch-traditionelle Doppelgängergeschichte. In dem im 18. Jahrhundert populären Genre des Märchens, in dem nun mal alles möglich ist[32], verwischen jedoch die Grenzen zwischen Phantastisch und Realistisch, ein Thema, das für die Doppelgängergeschichten relevant ist. Dennoch dienen – im Gewand des Märchens – die Doppelgängerstruktur und -komposition als Realisierungsprinzip von Kritik inklusive Thematisierung von Subjektivität und Identität. Dabei werden die charakteristischen Motive der Doppelgängergeschichte in verschiedenen Variationen aufgegriffen. Vor allem der für die Doppelgängergeschichte typische Tod findet sich zum Ende wieder, als Zinnober tot im Nachttopf gefunden wird, und unterstützt somit diese Beobachtungen. Doppelgängerei wird dabei auch auf metafiktionaler Ebene betrieben, indem sich im Text zahlreiche intertextuelle Verweise finden lassen, so beispielsweise wird auf die Sammlung von Feen- und Geistermärchen (1786-1789) von Christoph Martin Wieland verwiesen, wenn von Dschinnistan die Rede ist.
Es zeigt sich also: Klein Zaches tritt als ambivalente Figur auf, denn Klein Zaches und Zinnober erscheinen als zwei Facetten derselben Person. Dabei steht er exemplarisch für den zweigeteilten gesellschaftlichen Zustand und zugleich für die Teilbarkeit des Ichs. Die Figur ist dabei ins Groteske gezogen und in ein märchenhaftes Gewand gekleidet, womit die Identitätsfrage subtil, aber satirisch, parodistisch und hinterfragbar gestellt wird. Vor allem Sterns Argumentation, in Klein Zaches würde Hoffmann seine Ich-Spaltung und -Aufteilung in die Figuren projizieren, kann durch die sich in den Figuren spiegelnden Motive des Doppelgängers unterstützt werden.
[1] Hoffmann, E. T. A.: Klein Zaches genannt Zinnober. Ein Märchen. Stuttgart 1985, S. 7.
[2] Hoffmann, E. T. A.: Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Stuttgart 1964.
[3] Knauer (1995) verweist auf Zinnober als altes Mittel zum Schminken.
[4] Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober, S. 6.
[5] Ebd., S. 48.
[6] Ebd., S. 7.
[7] Ebd., S. 55.
[8] Ebd., S. 68.
[9] Ebd., S. 5.
[10] Vgl. ebd., S. 106: „Armer Zaches! – Stiefkind der Natur! – ich hatt‘ es gut mit dir gemeint! Wohl mocht‘ es Torheit sein, daß ich glaubte, die äußere schöne Gabe, womit ich dich beschenkt, würde hineinstrahlen in dein Inneres […] Doch keine innere Stimme erwachte. Dein träger toter Geist vermochte sich nicht emporzurichten, du ließest nicht nach in deiner Dummheit, Grobheit, Ungebärdigkeit – Ach!“
[11] Ebd., S. 23.
[12] Ebd., S. 42.
[13] Ebd., S. 27.
[14] Ebd., S. 80f.
[15] Vgl. ebd., Fünftes Kapitel. Prosper Alpanus, Balthasar und Fabian bewegen sich in kurzer Abfolge zwischen Hell und Dunkel, zwischen Realität und Zauberbild, im magischen Halbdunkel.
[16] Ebd., S. 89.
[17] Ebd., S. 67.
[18] Ebd., S. 56.
[19] So beispielweise in Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober, S. 1f., S. 9f., S. 43.
[20] Duden Online: Wechselbalg.
[21] Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober, S. 81.
[22] Duden Online: Beelzebub.
[23] Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober, S. 32.
[24] Ebd., S. 29.
[25] Ebd., S. 63.
[26] Ebd.
[27] Ebd., S. 81.
[28] Ebd., S. 63.
[29] Ebd.
[30] Ebd., S. 64.
[31] Vgl. Beutin, Wolfgang u.a. (Hgg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7. Auflage. Stuttgart/Weimar 2008, S. 202 ff.
[32] Vgl. Lüthi, Max: Märchen. 7., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 1979.
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