Zipes (1982): Rotkäppchens Lust und Leid

Zipes, Jack: „Rotkäppchens Lust und Leid. Biographie eines europäischen Märchens.“ Köln 1982. (Hier: Vorwort und Einleitung, S. 11-94.)
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Vorwort: Literarische Märchen haben großen Einfluss auf Benehmen und Normen, auf die Schaffung kultureller Schablonen – weit größeren als den meisten bewusst sein mag. Die Geschichte vom Rotkäppchen von Charles Perrault dient für diesen Prozess als gutes Beispiel, denn „Perrault setzte mit ihm (und mit den anderen Märchen seiner Sammlung) Maßstäbe für ein gepflegt männliche Art von Sozialisation durch Literatur“ (S. 11). Die (noch bis heute) andauernde Beschäftigung stützt seine These.

Einleitung: Rotkäppchens Lust und Leid: „Rotkäppchen hat nie ein leichtes Leben gehabt.“ (S. 13) Rotkäppchens Weg variiert je nach Geschichte respektive Version der Geschichte, „mal so, mal so“ (S. 13). Mit ihrem zumeist hübschem Aussehen und leichtgläubigem Charakterzug diente sie vor allem Mädchen als Warnung, als „Symbol und Verkörperung dessen, was geschehen könnte, wenn diese ungehorsam und leichtsinnig sind“ (S. 14). In 300 Jahren haben die Symbolik und die Geschichte des Rotkäppchens gewechselt.

Die Geburt des mutigen Mädchens vom Lande: Lange führte man die Fabel von Rotkäppchen aus verschiedenen Gründen auf alte Mythen zurück. Neuere Forschungen zeigten jedoch, dass sie relativ modern ist, also ihre Grundelemente im Spätmittelalter entwickelt und vor allem in Frankreich durch Perrault ausgearbeitet wurden. Die der literarischen Version vorangegangene, „‚grobschlächtige‘ mündliche Volkstradition“ des Rotkäppchens ist für die literarische „‚gepflegte‘ bürgerliche“ (S. 15) Version von Bedeutung. Marianne Rumpf zeigte, dass der bei Perrault auftauchende Wolf dem Werwolf der französischen Warnmärchen entstammt; als Werwölfe wurden im 16. und 17. Jahrhundert junge Männer angeklagt, die „Kinder gefressen und andere sündhafte Taten begangen“ (S. 16) haben sollten. In den Regionen, in denen diese Prozesse verbreitet waren, tauchte, so erklärt Rumpf, die Geschichte des Rotkäppchens vermehrt auf. So scheint es naheliegend, dass auch Perrault mündliche Volksversionen von Rotkäppchen kannte, argumentieren Rumpf und Marc Soriano, aber auch Paul Delarue. Perraults literarischer Fassung fehlten einige Teile der mündlichen Version, so überlistete Rotkäppchen beispielsweise den Wolf in der „Volksmärchen-Version“ (S. 20) anstatt gefressen zu werden, das heißt: „das Volksmärchen feierte die Selbständigkeit eines Bauernmädchens.“ (S. 22)

Das brave Kind des Bürgers Perrault: Im Gegensatz zur Version des Volksmärchens erscheint Rotkäppchen bei Perrault in seiner „Oberschicht-Fassung“ für Kinder und Erwachsene „total hilflos“ (S. 22): „Das ‚Bauernmädchen‘ ist aufrichtig, mutig und schlau. Sie weiß ihren Witz zu gebrauchen, um vor räuberischen Bestien zu fliehen. Perraults Rotkäppchen ist niedlich, verwöhnt, naiv und hilflos.“ (S. 23) Die vermeintliche Warnung Perraults richte sich vor allem an junge Mädchen, sich nicht von Männern verführen oder gar vergewaltigen zu lassen. Von der Moralisierung der Geschichte abgesehen, gelang es Perrault, der Oberschicht Volksmotive in ansprechender Form näher zu bringen. Neben seinem Beitrag zur literarischen Form des Märchens jedoch ist ihm vorgeworfen worden, „rigorose Verhaltensmuster gesetzt zu haben in der – zeitgemäßen – Absicht, die Natur der kindlichen Entwicklung zu regulieren und einzuschränken.“ (S. 25) Die literarische Sozialisation war ab dem 16. Jahrhundert, vor allem in Frankreich, jedoch durchaus gängig. So kann Perraults Beitrag in der Stärkung von „Verhaltensmuster[n] und Vorbilder[n]“ (S. 30) für eine männliche, und somit dominante, Leserschaft gesehen werden. Im Gegensatz zur mündlichen Variante wird Rotkäppchen in der literarischen Version „eine Projektion männlicher Phantasien, in einem literarisch-gesellschaftlichen Diskurs erdacht, um die natürlichen Neigungen von Kindern zu zügeln und zu zivilisieren.“ (S. 31) Somit verweise Perraults Rotkäppchen auf „Verschiebungen, Konflikte und Brüche im westlichen Zivilisationsprozeß hin.“ (S. 31)

Die sanfte Tochter der Brüder Grimm: Durch den Erfolg von Perraults literarischem Rotkäppchen ist seine Geschichte bemerkenswerterweise wieder von der mündlichen Volkstradition aufgegriffen worden. Durch seine „Universalität, Mehrdeutigkeit und geschickten sexuellen Andeutungen“ (S. 31) gewann es bei den Brüdern Grimm an noch größerer Popularität. Als didaktisches Kindermärchen wurde es 1712 ins Englische übersetzt, und wurde unter anderem in Amerika populär, 1790 erschien eine deutsche Übersetzung, die von den Brüdern Grimm „bewußt in der bürgerlichen literarischen Tradition“ (S. 33) überarbeitet und von Grausamkeiten sowie zu Tragischem und Sexuellem befreit worden ist. Es gilt als nachgewiesen, dass die Brüder Grimm die Geschichte von der französischen Vorlage kannten. Wie auch schon bei Perrault ist die Geschichte bei den Brüdern Grimm an den sozialen Wandlungen von Kindern und ihrer Erziehung angepasst worden. Das „deutsche Rotkäppchen [wurde] zu einem noch naiveren, hilfloseren und niedlicheren kleinen Mädchen verändert“ (S. 33), das noch schlimmere Bestrafung für ihre Taten erfahren musste – die didaktische Betonung ist hier verstärkt worden. Durch die Änderungen wurde das Märchen „eine verschlüsselte Botschaft über rationalistische Körperbeherrschung“ (S. 35).

Der tugendhafte Engel im 19. Jahrhundert: Durch die häufige Übersetzung im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden die Märchen von Perrault und den Brüdern Grimm nicht nur „zu einem der literarischen Grundbausteine für Kindererziehung aller sozialen Schichten in Europa und Amerika“ (S. 39). Gleichzeitig ist die Geschichte des Rotkäppchens verschieden medial bearbeitet worden, beispielsweise als Oper oder in Illustrationen, und vielfach „in ein bürgerliches Moralstück“ (S. 40) verändert worden. Das aus dem ländlichen Milieu entstammende Rotkäppchen ist durch die Veränderungen schließlich mit „Stadtleben, Gehorsam und allgemeiner Frauenverführung durch lüsterne Männer“ (S. 41) assoziiert worden. Daneben hat es unter anderem von Charles Marelle und Émile Mathieu Versuche gegeben, die Geschichte umzudeuten, Rotkäppchen wieder eigenständiger werden zu lassen – ohne jedoch Perraults Version zu verdrängen. Parallel geschah in Deutschland Ähnliches: hier zeigte sich, „wie stark sich der bürgerliche Zivilsationsprozeß in den Rotkäppchen-Märchen durchsetzte“ (S. 45) und auch in Amerika und England überwogen „fade und prüde“ (S. 47) Versionen.

Rotkäppchen, 20. Jahrhundert: Witzig – aufsässig – realistisch: Obwohl die Fassungen von Perrault und den Brüdern Grimm noch immer dominieren, führte die „Zeit von 1919 bis 1945 […] nur zu den ersten Rissen in den traditionellen Verhaltensmustern, die sich in der Märchenfabel eingeprägt haben“. (S. 56) Viele der in der Zeit verfassten Märchen sind zwar verschwunden, doch diskutiert Zipes acht ausdrücklich nicht für Kinder verfasste Versionen aus Frankreich, Deutschland, England, Irland und Amerika, die er wiederentdeckt hat. Thematisiert werden in diesen Versionen unter anderem Leserrezeption (Charles Guyot, 1922), Humor, Ironie und Parodie (Milt Gross, 1924, sowie Joachim Ringelnatz, 1923), „ambivalente Haltung zu den konservativen Vorstellungen des traditionellen Märchens“ (S. 59) (Caroline Thomason, 1920, sowie Johnny Gruelle, 1929), deutsches Nationalgefühl (Werner von Bülow, 1920er Jahre) oder der Erhalt christlicher Ethik (Walter De La Mare, 1927, sowie E. O. Somerville, 1934). Daneben erschien in Amerika 1939 The Girl and the Wolf von James Thurber, wo Rotkäppchen „das Image einer neuen unabhängigen Frau“ (S. 64) erhielt. „Nach dem Krieg wurde sie in Europa und Amerika weiter radikalisiert.“ (S. 66) Zipes teilt diese Radikalisierung in drei Hauptströmungen ein: (1) Weibliche Unabhängigkeit (Bsp.: Catherine Storr, Pollykäppchen, 1955), (2) Rehabilitation des Wolfes (Bsp.: Otto Wiemer, Der alte Wolf, 1976), (3) Möglichkeit der Infragestellung konventioneller Zivilisationsmuster (Bsp.: Jean Merrill, Red Riding, 1968, oder Gianni Rodari, Little Green Riding Hood, 1973). Die bis heute herrschende Dominanz der Versionen der Brüder Grimm und von Perrault lassen Zipes von einem „‚Rotkäppchen-Syndrom‘ in der Kultur des Westens“ (S. 77) sprechen, was „ironischerweise zu einem pervertierten Sinn von Sexualität geführt“ (S. 77) hat.

Wer hat Angst vor dem Werwolf? Zipes untersucht „die Vorstellungen von Werwölfen, Natur, Sexualität und Ketzerei im Spätmittelalter“ (S. 77), um die Unterschiede der mündlichen und literarischen Version begreiflich zu machen. Vor dem Hintergrund dieser Informationen fasst er die mündlich tradierte Version als

eine weltliche Übergangsversion […], die noch nicht von den christlichen Vorstellungen angesteckt war, die den Werwolf mit dem Teufel verband, oder von Absichten, Kinder zu kontrollieren. […] Offensichtlich reflektierte das ursprüngliche Volksmärchen ‚Die Großmutter‘ die sexuelle Offenheit der Bauern im Spätmittelalter, sowie auch eine allgemeine Toleranz dem Andersartigen gegenüber. Wie wir wissen, stand diese Haltung unmittelbar vor einer Veränderung.

S. 81 f.

Mit der Schaffung einer literarischen Version nun wurde Rotkäppchen zu einer hilflosen und unschuldigen jungen Frau, die ihrer Umwelt mehr oder minder schutzlos ausgeliefert und auf männliche Hilfe angewiesen war, „eine männliche Schöpfung und Projektion“ (S. 85). Der Werwolf ist dem Wolf gewichen, da der den Werwolf einschließende Hexenwahn abgeklungen war. Das rote Käppchen des Mädchens, das in der mündlich überlieferten Version noch nicht existierte, machte sie zu einer Individualistin und zu etwas Besonderem (vgl. S. 83). Mit den Grimms ist die Geschichte moralisch aufgebessert worden, wurde „zu einer ausdrücklichen Erzählung von Recht und Ordnung“ (S. 84). Die Aktualität des Märchens liegt darin, dass Frauen noch immer Opfer der Männer werden können, es also als eine „Warnung vor möglicher sexueller Belästigung […] noch immer einen gesellschaftlichen Zweck [hat].“ (S. 86)


Am Beispiel des Rotkäppchens stellt Zipes in stimmiger und ausführlicher Weise dar, was Lüthi und Propp aufgezeigt haben, nämlich die Beeinflussung der Märchen(versionen) vom historischen Alltag, von der realen Wirklichkeit sowie der Epoche. Selbst Jahrzehnte nach der Veröffentlichung seines Aufsatzes ist das Rotkäppchen noch heute ein gelungenes Beispiel, nicht nur, weil seine Schlussbemerkung (traurigerweise) noch heute Gültigkeit hat, sondern weil das Bild des Mädchens noch immer präsent ist – in Kostümen für Karneval oder Halloween, sogar als Sekt, und in Filmen. Von besonderem Interesse ist dabei der an Rotkäppchens Geschichte angelehnter Film Red Riding Hood von Catherine Hardwicke aus dem Jahr 2011, in dem wieder Werwölfe auftauchen.