Name und Begriff: Das Märchen als Verkleinerungsform zu Mär bezeichnet ursprünglich eine kurze Erzählung. Nach einer Bedeutungsverschlechterung kam das Märchen im 18. Jahrhundert wieder in Mode, im 19. Jahrhundert erfuhr es, unter anderem durch die Brüder Grimm, großen Erfolg. Unterschieden werden, „wertungsfrei“ (S. 1), die Erzählgattungen Kunstmärchen („Individualliteratur“, S. 5) und Volksmärchen („längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt […] und durch sie mitgeformt“, S. 5). Während das Märchen, das „für das allgemeine Empfinden“ (S. 3) mit Zauber und Wundern verbunden ist, im Deutschen eine eigene Gattung bildet, hat es in anderen Sprachen „oft eine allgemeinere Bedeutung“ (S. 1). In der Volksmärchenforschung haben sich die Begriffe ‚Märchen im eigentlichen Sinn‘ und ‚eigentliches Zaubermärchen‘ etabliert (v.a. Antti Aarne).
Abgrenzung gegen benachbarte Gattungen: Sage, Legende, Mythus, Fabel, Schwank: Die Neigung zur Aufnahme von Übernatürlichem hat das europäische Volksmärchen gemein mit Sage, Legende, Mythus und Fabel. Die Sage, eine ebenfalls moderne Bezeichnung, nimmt dabei eine Sonderstellung ein als eine „mit dem Märchen gekoppelte Kontrastgattung“ (S. 6). Mit dem Anspruch auf Glauben will sie von wirklichen Vorgängen erzählen, auch wenn diese sich von der Wirklichkeit entfernt haben. In der Sage sind das Außergewöhnliche, das Geheimnisvoll-Numinose und die Gestalten von zentralem Interesse, dagegen fehlt dem Märchen nicht nur das Gefühl für das Numinose, denn das Jenseitige wird als selbstverständlich wahrgenommen, es steht auch die Handlung im Vordergrund. In der Sage geht es um eine einzige Erscheinung, das Märchen schreitet von Station zu Station, „die Sage ist emotional, ethisch, sachlich, zeitlich und räumlich gebunden, das Märchen bewegt sich leichter und freier.“ (S. 8) In großer Nähe zur Sage steht die Legende, die von einem übernatürlichen Geschehen erzählt, das „von einem festen religiösen System aus gedeutet“ (S. 10) wird. Unterschieden werden die ‚eigentliche Legende‘ (Erzählung vom irdischen Leben heiliger Personen) und die ‚Mirakelerzählung‘ (Bericht von Wundern als Offenbarung Gottes oder als Hinweis auf ihn). In der Legende erfährt das Übernatürliche eine Steigerung, dagegen hat das Märchenwunder lediglich den Abglanz des Überirdischen. Obgleich der Begriff des Mythus umstritten und unklar ist, ist er zu verstehen als Erzählung von Göttern, die Grundvorgänge modelliert und die natürliche und die menschliche Welt strukturiert sowie nachvollziehbar macht. Mit Einnahme des Standpunkts im ganz Anderen wird das Geschehen seiner Zeitlichkeit enthoben. Zentral sind nicht künstlerische oder kreative Produktion, sondern Tradition und Rezeption. Die Fabel geht, wie das Märchen, „inhaltlich über den Rahmen des irdisch Möglichen“ (S. 12f.) hinaus, wenn beispielsweise Tiere, Pflanzen oder Dinge sprechen und handeln. Die Fabel gilt als „eine um der Nutzanwendung willen erfundene Geschichte, […] die Vorgänge und Figuren werden […] auf ihre praktische Bedeutung abgetastet und vom Dichter von vornherein daraufhin angelegt.“ (S. 13) Der Schwank letztlich, als Möglichkeit jeder Gattung, berichtet gerne Unmögliches, wie das Märchen auch. Er hat eine Richtung zum Unwirklichen durch seine Neigung zur Parodie, zur Satire, zur Entstellung. Im Gegensatz zum Märchen zielt der Schwank auf das Lachen ab.
Typen des Märchens: Im Sinne der praktischen Arbeit an und mit Märchen hat sich in der Märchenforschung im Laufe der Zeit auf der Grundlage von Antti Aarnes Analysen ein Typensystem entwickelt. Die drei Hauptgruppen sind hierbei Tiermärchen, eigentliche Märchen (unterteilt in weitere, unter anderem Zauber- und Wundermärchen), und Schwänke. „Die Typen sind die Schemata der konkret meist in vielen Versionen verbreiteten Erzählungen. Die stattliche, aber nicht unbegrenzte Zahl der stark verbreiteten Typen deutet auf bestimmte Grundmöglichkeiten des dichtenden Menschengeistes hin.“ (S. 19) Daneben existieren regionale Typenregister, die imstande sind, Eigenarten darzulegen, aber auch andere Versuche von Typenregistern, wie beispielsweise der von Johann Georg von Hahn, er „setzte die Märchen zu griechischen und germanischen Mythen in Bezug und arbeitete 40 ‚Formeln‘, ‚Urgedanken der Menschheit‘, heraus.“ (S. 22)
Wesenszüge des europäischen Märchens: Im Laufe von Jahrhunderten zeigt sich, trotz nationaler, zeitlicher und individueller Verschiedenheiten, ein Grundtyp des europäischen Märchens, das als Idealtyp aufgefasst werden muss. Es „kennzeichnet sich in der Hauptsache durch die Neigung zu einem bestimmten Personal, Requisitenbestand und Handlungsablauf und durch die Neigung zu einer bestimmten Darstellungsart (Stil).“ (S. 25) Handlungsverlauf: „Das allgemeinste Schema, das dem europäischen Volksmärchen zugrunde liegt, ist: Schwierigkeiten und ihre Bewältigung.“ (S. 25) Die Kernvorgänge sind Kampf/Sieg, Aufgabe/Lösung, die Ausgangslage ist eine Not beziehungsweise ein Mangel und am Ende steht der gute Ausgang. Die Handlung entwickelt sich oft in einem Zweier- und Dreierrhythmus, viele Märchen sind zudem zweiteilig, indem nach der Lösung einer Aufgabe eine neue Notlage eintritt. Oftmals stellt das Märchen „die wesentlichsten menschlichen Verhaltensweisen und Unternehmungen“ (S. 26) dar. Personal und Requisiten: Der der menschlich-diesseitigen Welt zugehörige Held oder die Heldin und ihre oftmals der außermenschlichen Welt angehörigen Gegner sind die Hauptträger der Handlung. Als Schädiger, Partner, Helfer oder Kontrastfiguren sind alle wichtigen Figuren auf den Helden bezogen, alle jedoch sind nicht individuell gezeichnet und werden oft in scharfen Gegensätzen voneinander getrennt. Auch in der Dingwelt sind Zauber- und Alltagsdinge scharf voneinander unterschieden. Hauptrequisite ist die zur Lösung führende Gabe. Darstellungsart: „Das europäische Märchen ist handlungsfreudig.“ (S. 29) Es zeichnet sich aus durch Bestimmtheit und Klarheit, die sich in der Ausrichtung auf eine meist einsträngig geführte Handlung, in der Vorliebe für alles klar Ausgeprägte, für Kontraste und Extreme, Formeln und anderem widerspiegeln. Gelenkt wird die Handlung von außen, vor allem durch Gaben und Helfer, nicht von innen, vom Helden. Wichtig ist, was die Handlung weiterbringt, nicht Innen- oder Umwelt des Helden.
Außereuropäische Märchen: „Die Bezeichnung ‚Märchen‘ oder gar ‚Volksmärchen‘ kann außereuropäischen Erzählungen nur mit Einschränkungen zuerkannt werden.“ (S. 33) Indien: Die um 300 v. Chr. entstandene Sammlung Pañcatantra ist gekennzeichnet durch ihr Bestreben, unterhaltend Staatsklugheit und Lebensweisheit zu lehren. Dieses hat, wie einige andere indische Werke, großen Einfluss und Einwirkung auf nachfolgende Erzählungen, nicht nur in Indien, sondern auch in anderen Ländern, sogar auf Werke der Weltliteratur. Die indischen Geschichten ähneln in Motiven, Aufbau und kunstvoller Gestaltung dem europäischen Märchen. Semiten: Die Märchen der Semiten sind kunstmäßig bearbeitete und im Ganzen wirklichkeitsnähere Erzählungen. Die bedeutendste arabische Märchensammlung ist Tausendundeine Nacht, die sich vor allem durch die Beiträge vieler Völker und Zeiten auszeichnet, und deren Ursprung in Indien vermutet wird. Naturvölker: Bei den sogenannten Naturvölkern finden sich vornehmlich Vorformen zum Märchen, die jedoch bereits eine deutlich erkennbare Struktur aufweisen. Viele ihrer Motive sind im europäischen Märchen wiederzuerkennen, oft vereinen sie Spieltrieb und Zauberglaube und sind in Kulthandlungen einbezogen.
Zur Geschichte des Märchens: Bereits im Altertum finden sich Spuren des Märchens wieder, von Märchen als solchen jedoch kann nicht gesprochen werden. Sehr wenige märchenhafte Züge finden sich in Texten des alten Babylon und Assyriens, in einigen Geschichten aus Israel spiegelt sich das Märchen wider, und im alten Ägypten verfasste Erzählungen enthalten auch im heutigen Märchen anzutreffende Motive und sogar einen märchenähnlichen Ablauf. Im alten Griechenland und Rom schließlich zeigen sich Hinweise auf Kinder- und Ammenmärchen sowie auf Altweibergeschichten, in manchen Sagen und Legenden finden sich Elemente, die als Märchenmotive bezeichnet werden können. Auch im Mittelalter und seiner literarischen Produktion sind märchenartige Elemente nachweisbar, „die als Hinweis auf die Existenz des Volksmärchens aufgefaßt werden können, aber nicht müssen.“ (S. 43) So können einige Geschichten der lateinischen Literatur des früheren Mittelalters als Schwankmärchen bezeichnet werden, und in Sammlungen von Predigtbeispielen des späteren Mittelalters finden sich neben Schwänken auch Fabeln, und stark märchenhafte Motive und Handlungsabläufe finden sich in diversen Geschichten. Spätestens im Frankreich oder den Niederlanden des 14. Jahrhunderts findet sich Asinarius, das später von den Brüdern Grimm aufgegriffen wurde. Besonderen Einfluss hatten orientalische Erzählungen, besonders auf keltische und schließlich europäische Literatur. Auch in höfischen Epen sind Strukturen und Motive von Märchen aufzufinden. In der Neuzeit schließlich „beginnen die Quellen reicher zu fließen“ (S. 47). Für das 16. Jahrhundert ist eine Variante des Aschenbrödels nachzuweisen, vor allem Straparolas Sammlung (1550/53) enthält mehrere Erzählungen, die als Märchen bezeichnet werden können, und die weite europäische Wirkung hatte. Im 17. Jahrhundert erscheint Basiles Pentamerone (1634/36), „das den wichtigsten Beitrag zum Bestande der publizierten Volksmärchen“ (S. 48) ausmacht. Perrault gibt Ende des 17. Jahrhunderts „acht Erzählungen heraus, von denen sieben offensichtlich echte Volksmärchen sind, […] im ganzen recht einfach und getreu“ (S. 49), 1696/97 folgte Mme d’Aulnoy mit Les contes des fées, die unter anderem Wirkung in Deutschland hatten. Ein weiterer großer Erfolg war das im 18. Jahrhundert erschiene Les milles et une Nuits en François von Galland. Im 19. Jahrhundert war mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm „das entscheidende Wort in der Geschichte des Volksmärchens in Deutschland gesprochen.“ (S. 52) Sie machten das Volksmärchen (wieder) buchfähig und zum Vorbild für nachkommende Märchen, gleichzeitig jedoch wurde die mündliche Erzählkultur ein Stück mehr verdrängt.
Aus der Geschichte der Märchenforschung: Die Brüder Grimm sammelten nicht nur als erste systematisch Märchen, sondern sind zugleich als Begründer der Märchenforschung zu betrachten. Den Ursprung des Märchens, die Kernfrage im 19. Jahrhundert, sehen sie im Mythus. Im 20. Jahrhundert beschäftigte man sich hauptsächlich mit Fragen nach Funktion und Wesensart des Märchens und begann, die Märchenforschung international zu organisieren. Ethnologen widmen sich der Untersuchung von Sitten, Denkgewohnheiten und Traumerfahrung primitiver Völker, die sie in Märchen zu entdecken suchen. Es zeigte sich, dass „die Motive viel älter sein können und es meist auch sind als die Erzählungen, in denen wir sie finden.“ (S. 78)
Das Märchen als Träger der Wirklichkeit und als Dichtung: Als einen „Träger gleichzeitig von vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeit“ (S. 117) bezeichnet Lüthi das Märchen, da sich Spuren der Vorstellungen von Naturvölkern nachweisen lassen, aber, vor allem in noch lebendiger mündlicher Tradierung, auch den Einbezug von Alltagsgut. Selbst zauberische Elemente scheinen auf die Wirklichkeit zurückzugehen. Welches Menschenbild das Volksmärchen zeigt, wird nicht nur von Literaturwissenschaftlern untersucht, sondern in Zusammenarbeit mit Volkskundlern, Psychologen und Soziologen komplex, aber sachgerecht versucht zu interpretieren.
Wieder in einer vergleichsweisen kurzen Abhandlung erläutert Lüthi das Märchen. Dabei gelingt es ihm nicht nur, kulturelle Prozesse aufzuzeigen, sondern auch immer wieder Anregungen und Ausblicke für die folgende Forschung zu geben.
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