Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ (1969): Radiolügen

Radiolügen | Prosa & Papier

‚Wir lügen alle‘ sagt Margret Boveri. Sie meint damit: wer sich erinnert, der vergißt manches, der verdrängt manches und der verschönt anderes; er ist also bestrebt, seine eigene Rolle möglichst günstig erscheinen zu lassen.

Zimmermann, Hans Dieter: Lügt die Sprache? Über die Schwierigkeit, die Wahrheit zu sagen. In: Böhme, Wolfgang (Hrsg.): Lügen wir alle? Zeitkritische Überlegungen. Karlsruhe 1985, S. 10.

Einleitung

Lügen, betrügen, täuschen, vorenthalten – der Mensch kennt viele Möglichkeiten und Gründe, die Wahrheit zu verdrehen, nicht richtig darzustellen, bewusst, unbewusst, beabsichtigt, unbeabsichtigt, aus guten oder weniger guten Beweggründen.

Lügen ist nicht nur ein zwischenmenschliches und alltägliches Phänomen, es findet auch in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen Beachtung. In der Rhetorik, den Rechtswissenschaften und der Medizin hat die Beschäftigung mit dieser Thematik eine lange Tradition und ist unweigerlich verknüpft mit ethischen Fragen. In der Theologie wird sich ebenso lange mit Lügen beschäftigt. So werden heutzutage beispielsweise in der Moraltheologie die Frage nach der Alltagslüge und die Frage nach Ausnahmen des Lügenverbots diskutiert.[2] In der Philosophie bemüht man sich bereits seit einiger Zeit darum, zu definieren, was Lügen ist, wie Intentionen einzubeziehen sind, welche positiven wie negativen Folgen Lügen haben (können) und wie sie zu bewerten sind. Auch in den Kognitionswissenschaften gibt es vermehrt Forschungen zur Entwicklung der Fähigkeit zu lügen, so soll empirisch nachgewiesen werden, wann Kinder lernen zu lügen. In der Literatur schließlich wird das Thema verhandelt, wie alle Themen des menschlichen (Alltags-)Lebens erörtert werden. Die neuere Literaturwissenschaft befasst sich darüber hinaus seit einiger Zeit in engem Zusammenhang mit Fragen nach Fiktion und Fiktionalität.

Jurek Becker, Jakob der Lügner (1982)

Wie nun werden die Themen Lüge, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Fiktion, Fiktionalität und Metafiktionalität bei Jurek Becker behandelt? In Jakob der Lügner kombiniert Becker auf besondere Weise diverse und durchaus komplexe Thematiken und spielt mit menschlichen Themen wie Hoffnung, Leid und Humor, geht mit historischen Ereignissen um, gleichzeitig finden sich Referenzen zu Autorschaft, Erzählinstanz und textinternen Personen. Behandelt werden Metafiktionalität, Fiktionalität und zwischenmenschliche Phänomene, im vorliegenden Roman vorrangig die Rechtfertigung und Konsequenzen von Unwahrheit für Lügner und Belügte.

Auf der Ebene der Narration selbst geht es also um das Thema Lügen, so viel wird dem Leser schon auf paratextueller Ebene verraten: Der Titel verweist mit Jakobs Beinamen „der Lügner“ darauf, und lässt richtigerweise vermuten, dass nicht Jakob selbst erzählt, sondern dass aus einer Beobachterposition von Jakob Heym berichtet wird. Die erzählte Geschichte selbst ist gerahmt durch die Beschreibungen des Erzählers von Bäumen, die eine persönliche Bedeutung für diesen haben. Innerhalb dieser Rahmung wird rückblickend und mit diversen zeitlichen Einschüben von Jakob erzählt, ohne dessen bemerkenswerte „Radiolügen“ (JB 259) „diese gottverdammte Geschichte nicht hätte passieren können“ (JB 9). Die mehrfach Erwähnung findenden Bäume können in Analogie zu den Lügen gesetzt werden, die verästelt weiter wachsen. In einem fiktionalen Rahmen mit einer fiktionalen Geschichte wird hier eine historische Wirklichkeit, die des Ghettos und des deutschen Nationalsozialismus, literarisch verarbeitet. Zwar könnten in der Erzählung einige geschilderte Situationen, Gedanken und Dialoge in Frage gestellt werden, die Lüge erweist sich jedoch als Tatsache im erzählten Geschehen.

Die Lüge

Die Lüge Jakobs ist das Resultat eines Zufalls: Eines Abends wird er im Ghetto von einem Soldaten ins Revier geschickt, um sich seine Bestrafung dafür abzuholen, dass er „nach acht auf der Straße gewesen“ (JB 11) sei. Im Gebäude wird er zufällig Zeuge eines Radioberichts, in der die Nachricht von näher kommenden Russen verlesen wird. Nachdem Jakob wider Erwarten das Gebäude verlassen darf, erzählt er am nächsten Tag seinem Freund Mischa von der Nachricht. Obgleich er „ohne Absichten“ (JB 26) gekommen war, konnte er die Nachricht nicht für sich behalten. Erzählt er zunächst noch die tatsächliche Begebenheit, veranlasst Mischas Reaktion ihn dazu, die folgenreiche Lüge zu erzählen: „‚Ich habe ein Radio!‘, sagt Jakob.“ (JB 32) Diese wenigen Worte machen die ursprüngliche Lüge aus, die jedoch weitreichende Folgen hat, und bei der es nicht bleibt, denn Jakob wird im Folgenden nicht nur weitere Lügen erzählen, sondern versäumt auch die Möglichkeit, die Situation aufzuklären.

Die Motivation zum Lügen

Warum lügt Jakob? Das Geschehen wird so geschildert, dass der Leser gleich nach der Lüge nachvollziehen können soll, warum Jakob so handelt: „Er ist gezwungen worden, verantwortungslose Behauptungen in die Welt zu setzen, der ahnungslose Idiot da hat ihn gezwungen mit seinem lächerlichen Mißtrauen“ (JB 32). Es zeigt sich, dass es nicht die eine Motivation für seine Lüge gegeben hat: (1) Durch die Lüge gelingt es Jakob, dass Mischa ihm glaubt, was zur Folge hat, dass er und die anderen Ghettobewohner wieder Hoffnung haben können. (2) Jakob schützt sich selbst. Indem er behauptet, er sei im Besitz eines Radios, der im Ghetto verboten ist, gibt es keinen Anlass zur Ungläubigkeit. Warum sollte er lügen und sich so einer Lebensgefahr aussetzen? Da im Ghetto viel erzählt wird und viele Gerüchte in Umlauf gebracht werden, scheint die Behauptung, Jakob hätte ein Radio, eine sichere Lösung, da nicht zu vermuten ist, dass es nicht der Wahrheit entspricht. Durch die Lüge bewahrt also Jakob paradoxerweise seine Glaubwürdigkeit, was wichtig ist, damit die anderen Bewohner wieder Hoffnung verspüren können. Nachdem er mit dem Äußern der wahrheitsgemäßen Umstände nicht auf die erhoffte, sondern sogar auf die ganz und gar gegenteilige Reaktion trifft, entscheidet er sich, seine Geschichte umzuformen. Jakob entscheidet sich, die Umstände des Gehört-Habens zu modifizieren, um glaubhaft zu erscheinen.

Nach Warren Shibles lassen sich die Gründe für Lügen in verschiedene Kategorien unterteilen. Jakobs Verhalten kann nach diesen Unterscheidungen folgendermaßen beschrieben werden: „Wir lügen, weil wir denken, daß es für jemanden besonders gut sei“[3], und: „Wir lügen, um den Teamgeist zu stärken“[4]. Die „wahren“ Beweggründe von Jakobs Verhalten bleiben aber unbekannt, Spekulation, da nicht er, sondern ein anderer seine Geschichte erzählt. Der Leser erfährt so über die Auswirkungen und Gedanken zu Jakobs Lügen, indem der Erzähler abwägt, Konsequenzen darstellt und Jakobs Motivation nachzuvollziehen versucht. Der Erzähler scheint zu versuchen, abzuwägen, ob es sich um eine „gute Lüge“ handelt oder nicht, wenn der Versuch einer Rechtfertigung permanent präsent ist. Shibles verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt: auf denjenigen, der die Lüge glaubt: „Wir tendieren dazu, nur denjenigen, der lügt, zu tadeln. Aber wenn niemand die Lüge glaubt, wird kein Schaden angerichtet. So ist der, welcher der Lüge glaubt, auch teilweise verantwortlich, weil er die Lüge glaubt.“[5] Im Fall von Jakob verhält es sich tatsächlich so, dass seine ursprüngliche Lüge über den Besitz des Radios zu weiteren ausbauenden Lügen führen kann, da sie geglaubt wird. Die besonderen Umstände, das Sehnen nach einem Hoffnungsschimmer, und die Bereitwilligkeit, Jakob diese durchaus anzweifelbare Lüge zu glauben, lassen ihn weitermachen. Letztlich gibt es genügend Hoffende, denen sich Jakob verpflichtet fühlt.

Die Konsequenzen und die Funktion der Lüge

Seine Absicht galt der Hoffnung, der Bewahrung seiner Glaubwürdigkeit und seinem Schutz, so scheint es dem Leser. Im Verlauf der Geschichte zeigt sich jedoch schließlich, warum von Verantwortungslosigkeit gesprochen wird: Einerseits wird Jakob es nicht bei der anfänglichen Lüge belassen – er baut sie aus, spinnt sie weiter, und bringt sich zusätzlich selbst in Gefahr, schließlich ist der Besitz und das Hören eines Radios den Juden im Ghetto verboten. Andererseits scheint er in dieser kurzen Zeit die negativen Folgen nicht bedacht zu haben, denn er veranlasst nicht nur Lina zum Lügen, als sie ihn zu verteidigen versucht[6], sondern wird als (Mit-) Verantwortlicher von Kowalskis Suizid gezeigt, nachdem Jakob seine Lüge aufgedeckt hat.

Die in der Geschichte geschilderte Intention Jakobs lässt keine Täuschungsabsicht vermuten, die anderen schaden oder sie in die Irre führen soll. Bei Shibles lassen sich wiederum Parallelen zu Jakobs Handeln finden. Es heißt:

Roger Higgs schrieb, daß bis 1980 nach den ethischen Prinzipien der Amerikanischen Medizinervereinigung (AMA) Ärzte die Wahrheit wie eine Medizin verwendet haben. Oft eröffneten sie ihren Patienten nicht ihre Gedanken über deren Leiden, damit es nicht u. a. zu Verlust von Hoffnung, Verschlechterung ihres Zustands oder zu Enttäuschung kommen würde.

Shibles (2000), S. 12.

Im Vordergrund stehen zunächst die positiven Auswirkungen seiner Lüge. Jakobs Entscheidung, die Lüge weiterleben zu lassen, führt zu insgesamt weniger Suiziden, zu mehr Ablenkung, sei es aus Sorge um das verbotene Radio oder aus Neugierde an Neuigkeiten. Er schafft „ein wenig Zeit für rosige Gedanken“ (JB 81). Er gilt als „Glückspilz“, als „Auserwählter“ (JB 69).

Aber auch die negativen Seiten werden beschrieben: Um Jakob vor ihren Freunden zu verteidigen, lügt Lina, auch sorgen sich viele Bewohner um die Existenz des Radios, und vor allem sein langjähriger Freund Kowalski erhängt sich letztlich.

Gezeigt wird aber auch die andere Seite, die Perspektive des Lügners. Jakob leidet unter seiner Lüge, denn „immerzu muss er sich verstellen“ (JB 88). Er scheint in Verzweiflung über seine komplizierte Lage zu geraten, über die Notwendigkeit, immer neue Nachrichten zu imaginieren, nachdem er seine Lüge jedoch Kowalski gestanden und dieser sich erhängt hat, beschließt er, zum Wohl der anderen Ghettobewohner die Lüge weiterhin aufrecht zu erhalten.

Der Erzähler

In Jakob der Lügner nimmt der Erzähler eine besondere Stellung ein. Was Jakob Steinbrenner zeigt, spiegelt sich im Roman: Texte können nicht lügen, denn diese Fähigkeit ist Menschen vorbehalten, also können lediglich die Figuren lügen. Dem textinternen Erzähler sind Spiele mit der Wahrheit und mit dem Leser vorbehalten. Es ist ihm möglich, mit seiner vermeintlichen Erinnerung zu spielen, so den Leser und Perspektiven zu lenken auf ihm relevante Details zu verweisen. Für die Geschichte, die er erzählt, beruft er sich hauptsächlich auf Jakob: „Mein wichtigster Gewährsmann ist Jakob, das meiste von dem, was ich von ihm gehört habe, findet sich hier irgendwo wieder, dafür kann ich mich verbürgen.“ (JB 43f.) Auch nennt der Erzähler sich selbst als Augenzeugen, denn er sei einer der anderen Ghettobewohner gewesen und sei während der Zeit im Ghetto dabei gewesen. Bei der Deportation lernen sie sich schließlich kennen, wodurch Jakob dem Erzähler berichten kann.

Die Erzählstrategie zeichnet sich durch Selbstreferentialität aus: Der Erzähler beruft sich wiederholt auf Quellen, Berichte von Jakob und anderen, auf seine Anwesenheit zur Zeit des Geschehens[8], erklärt, selbst nachgeforscht zu haben und nach Jahren erneut an den Ort des Geschehens gefahren zu sein. Er thematisiert nicht nur den Akt des Erzählens während des Erzählens, sondern unterbricht die Haupthandlung an diversen Stellen, um von Geschehnissen zu anderer Zeit zu berichten, von sich als Figur zu erzählen oder um sich auf Quellen berufen zu können. Reflektiert werden das Thema der Erinnerung an Ereignisse, der Prozess und die Entwicklung der Geschichte. Es verhält sich bei dem sich an den Leser wendenden Erzähler scheinbar wie mit Jakob und seiner Lüge: „So eine Nachricht ohne die Quelle ist einfach nichts wert, eben bloß ein Gerücht.“ (JB 53)[9] Authentizität wird nicht nur durch solche Quellen versucht zu erreichen, sondern auch umgekehrt, wenn er sich gerade nicht genau zu erinnern meint, gewinnt die Erzählung an Glaubwürdigkeit (bspw. „glaube ich“, JB 67). Gleich zu Beginn heißt es:

Ich habe schon tausendmal versucht, diese verfluchte Geschichte loszuwerden, immer vergebens. Entweder es waren nicht die richtigen Leute, denen ich sie erzählen wollte, oder ich habe irgendwelche Fehler gemacht. Ich habe vieles durcheinandergebracht, ich habe Namen verwechselt, oder es waren, wie gesagt, nicht die richtigen Leute.

JB 9

Von besonderem Interesse sind auch die „zwei Enden, im Grunde natürlich nur eins, das von Jakob und uns allen erlebte, aber für mich hat sie noch ein anderes.“ (JB 257) Der Erzähler schildert „starke Bedenken […] betreffs der Wahrhaftigkeit“ (JB 258), schließlich ist ein Ende der Geschichte imaginiert und „in Jahren zusammengezimmert“ (JB 258).

Zusammenfassung

„Eine gute Lüge, die jedem hilft, braucht nicht gerechtfertigt zu werden.“[10]

Jakob lügt. Die in der erzählten Welt als Tatsache geltende Feststellung erweist sich als folgenreich und komplex. Jakob entscheidet sich für die Lüge, nachdem und weil Mischas Reaktion derart negativ ausgefallen ist und erweitert die anfängliche Einzellüge zu „Radiolügen“ (JB 259). Sein Handeln ist motiviert von individuellen Gründen (Selbstschutz und Bewahrung der Glaubwürdigkeit) und solchen, die dem Kollektiv helfen sollen (Hoffnung schenken).

Wie also ist Jakobs Lüge zu bewerten? Hilft sie tatsächlich jedem, sodass sie nach Shibles gerechtfertigt ist? Verhält es sich in Jakobs Fall so, dass seine Lüge wegen der vermeintlich guten Absicht akzeptabel ist?

Der Roman zeigt positive und negative Konsequenzen seines Handelns und überlässt es dem Leser, abzuwägen, wie seine Lüge zu bewerten ist. Obgleich Lügen als moralisch verwerfliches Verhalten gilt, scheint Jakob eine Reihe von Suiziden abgewendet haben, auch wenn er die Deportationen nicht verhindern konnte. Es scheint also: „Wenn […] die Behauptung belegt werden kann, daß ein unschuldiges Leben mit Hilfe der Lüge gerettet werden kann, dann wird das für die meisten Leute ihre grundsätzlich negative Bewertung aufwiegen.“[11] Sissela Bok verweist auf die „lange Tradition der politischen Philosophie, die einige Lügen zum Wohle der Allgemeinheit billigt.“[12] Trotzdem erweist sich, dass Jakobs Lüge nicht nur andere Ghettobewohner verängstigt, sondern auch ihm selbst schadet. Dem Lügner scheint jedoch das Wohl des Kollektivs über seinem eigenen zu stehen, wenn er an seiner hoffnungsgebenden Lüge festhält. Auch in der Moraltheologie „seien Lügen in (mehr oder weniger) genau umgrenzten Situationen moralisch akzeptabel [ohne sie grundsätzlich gutzuheißen].“[13]

Im Roman wird nicht nur gezeigt, dass Menschen lügen, sondern auch, warum sie es tun. Die Figuren wägen ab und entscheiden sich meist aus Schutz für sich und andere für die Lüge. Nicht nur Jakob lügt, auch Lina verteidigt ihn und lügt damit wissentlich, und Mischa belügt Rosa, um sie nicht in Lebensgefahr zu bringen.

Die besondere Art des Erzählens bewirkt in der Narration mancherlei. Der Erzähler spricht wiederholt direkt den Leser an und nimmt ihn so mit in die Erzählung. In dieselbe Richtung gehend ist auffällig, wenn der Erzähler von „man“ spricht, obwohl er die Situation oder Gedanken einer bestimmten Figur schildert. So verlieren die Situationen an Individualität, Figuren werden austauschbar und die Handlungsweisen für jeden Leser nachvollzieh- und nachempfindbar. Wenn der Erzähler in Jakobs Gedanken zu sein scheint und als ein „ich“ mit einem „du“ spricht, gewinnt die Narration an Universalität. Jakob wird mithin zu einem Beispiel für viele, was sich in der Narration widerspiegelt, wenn auch Mischa Rosa belügt, um sie zu schützen (vgl. JB 229ff.).

Von besonderem Interesse sind Leserlenkung und Lesererwartungen in Jakob der Lügner: Dem Leser wird durch die Erzählstrategie nicht nur ermöglicht, sich in Figuren und Situationen einzufühlen und sie nachzuvollziehen, eine mögliche Erwartung, dass Jakob alleinig im Fokus der Narration stehen wird, muss enttäuscht werden. Zwar ist Jakob ohne Zweifel Auslöser für die Geschichte, es zeigt sich jedoch, dass das zwischenmenschliche Phänomen des Lügens gleichberechtigt neben der Reflexion über das Erzählen im Vordergrund steht. Dargestellt werden Jakobs Lüge, die Auswirkungen seines Handelns sowie der Prozess und Akt des Erzählens. Durch die Zentralstellung der Lüge, ihrer Rechtfertigung und Nachvollziehbarkeit sowie der Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen wird nicht die Grausamkeit und Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus betont, sondern Menschlichkeit. Anstatt die Schuldfrage der Deutschen aufzugreifen und den Leser beim Lesen in eine drückende Stimmung zu versetzen, wird allzu Menschliches verhandelt, was nicht nur Juden und Deutsche, sondern alle Menschen gleichermaßen verbindet: Lügen, Hoffnung, Schutz von geliebten Personen.

Auf fiktionaler Ebene spiegelt sich, was auf metafiktionaler Ebene passiert: „For almost every writer, memory is the starting-point of the imagination“[14]. Mario Vargas Llosa nennt Literatur aus Prinzip subjektiv: „it deals in half truths, relative truths, literary truths which frequently constitute flagrant historical inaccurancies or even lies.“[15] Im Roman zeigt sich, was Vargas Llosa betont: Literarische und historische Wahrheit sind zweierlei. Literatur gehe es nicht darum, historische Wahrheiten darzustellen, sondern die Wahrheiten, die verborgen sind im „heart of the human imagination“[16].

Wenn der Erzähler schließlich Gespräche schildert, die er nie selbst erlebt hat, Gedanken ausformuliert, die so womöglich nie gedacht wurden, zeigt sich auf der Ebene des Erzählers, was Autorschaft ausmacht: So wie der Erzähler (be)schreibt auch der Autor Mögliches, die Dinge, wie sie passiert und gedacht sein könnten. Wie in der Narration selbst, so spiegelt auch Literatur, was wichtig ist: nicht detailgetreue Schilderung einer Wahrheit, sondern Möglichkeiten der Handlung, Gedanken, Rechtfertigung, um so beispielsweise Hoffnung geben zu können, nicht nur in dem Gesagten, sondern auch im Geglaubten:

Sie wünschte sich eine Wolke. Der Witz ist, daß sie dachte, Wolken sind aus Watte, und nur deswegen war sie mit der Watte zufrieden.

JB 281

Bibliografie

Primärliteratur

Becker, Jurek: Jakob der Lügner. Berlin und Weimar 1982.

Sekundärliteratur

Bok, Sissela: Lügen. Vom täglichen Zwang zur Unaufrichtigkeit. Reinbek bei Hamburg 1980.

Flierl, Alexander: Die (Un-)Moral der Alltagslüge?! Wahrheit und Lüge im Alltagsethos aus Sicht der katholischen Moraltheologie. Münster 2005.

Shibles, Warren: Lügen und Lügen lassen. Eine kritische Analyse des Lügens. Mainz 2000.

Steinbrenner, Jakob: Can fiction lie? In: Mecke, Jochen (Hrsg.): Cultures of Lying. Theories and Practice of Lying in Society, Literature, and Film. Regensburg 2007, S. 263-278.

Vargas Llosa, Mario: The Power of Lies. In: Encounter, Dezember 1987, S. 28-29. Online-Ressource, unter: http://www.unz.org/Pub/Encounter-1987dec-00028 [zuletzt abgerufen am 28.03.2014 um 12:13 Uhr.]

Zimmermann, Hans Dieter: Lügt die Sprache? Über die Schwierigkeit, die Wahrheit zu sagen. In: Böhme, Wolfgang (Hrsg.): Lügen wir alle? Zeitkritische Überlegungen. Karlsruhe 1985, S. 9-19.


[1] Zimmermann, Hans Dieter: Lügt die Sprache? Über die Schwierigkeit, die Wahrheit zu sagen. In: Böhme, Wolfgang (Hrsg.): Lügen wir alle? Zeitkritische Überlegungen. Karlsruhe 1985, S. 10.

[2] Vgl. Flierl, Alexander: Die (Un-)Moral der Alltagslüge?! Wahrheit und Lüge im Alltagsethos aus Sicht der katholischen Moraltheologie. Münster 2005, S. 16f.

[3] Shibles, Warren: Lügen und Lügen lassen. Eine kritische Analyse des Lügens. Mainz 2000, S. 65.

[4] Ebd., S. 66.

[5] Ebd., S. 69.

[6] Jakob sei „alles andere, nur kein Lügner“ (JB 239).

[7] Shibles (2000), S. 12.

[8] „Er hat zu mir gesprochen, aber ich rede zu euch, das ist ein großer Unterschied, denn ich bin dabeigewesen.“ (JB 44)

[9] Die Erzählstrategie sowie der Umgang mit den Themen Erinnerung, Holocaust und Fiktionalität erinnern an die Werke W.G. Sebalds.

[10] Shibles (2000), S. 69.

[11] Bok, Sissela: Lügen. Vom täglichen Zwang zur Unaufrichtigkeit. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 137f.

[12] Ebd., S. 203.

[13] Flierl (2005), S. 78.

[14] Vargas Llosa, Mario: The Power of Lies. In: Encounter, Dezember 1987, S. 28.

[15] Ebd.

[16] Ebd., S. 29.