Zimmermann (2001): Der Doppelgänger als intermediale Figur

Zimmermann, Tanja: „Der Doppelgänger als intermediale Figur – Wahnsinn als intermediales Verfahren. Zu Nabokovs Otčajanie/Despair.“ In: „Wiener Slawistischer Almanach“, Band 47 (2001), S. 237-280.
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Import und Export der Medien als Projektion: Der Doppelgänger als literarische Figur „ist sowohl im psychoanalytischen als auch im technischen, medialen Sinne eine Projektion.“ (S. 237) Die Metapher der Projektion, ein den zeitgenössischen Medien entlehnter Begriff, in der Psychoanalyse, womit die ‚Projektion‘ des Unbewussten von unverarbeiteten Erlebnissen in eine verfälschte Wirklichkeit beschrieben wird, „wird in der literarischen Figur des Doppelgängers zu einer medialen Projektion“ (S. 237), indem sich die Figur selbst in ein anderes, suggeriertes Medium projiziert. Dabei findet die Projektion vom literarischen in ein auditives und/oder visuelles Medium statt und somit thematisiert Literatur die Verdoppelung der Medien im Kontext anderer Medien und der Doppelgänger wird zur intra-/intermedialen Figur innerhalb der Literatur. Wird der literarische Stoff verfilmt, wird aus der inszenierten Intermedialität eine Wirkliche.

Wahnsinn als intermediales Verfahren: In Vladimir Nabokovs Otčajanie/Despair (1932/1966) projiziert der Protagonist Hermann die eingebildete Doppelgängerfigur nicht nur in eine wirkliche Person und macht somit einen Menschen zur Projektionsfläche. Zum ersten Mal in der den Doppelgänger thematisierenden Literatur wird aus dem Selbstmord ein Mord an einem anderen Menschen. Wahnsinn, bei Nabokov mit Kunst austauschbar, findet sich in seiner Literatur nur noch entleert wieder, in den drei Verfahren der Verfremdung, Demotivierung, Depsychologisierung und Dekontextierung. Der falsche Doppelgänger und der entleerte Wahnsinn als Hauptthemen des Romans nennt Hermann Anders-Sagen (inoskazanie), auf „der Ebene des Sujets wird der Wahn als inoskazanie zum Schlüssel eines intermedialen Verfahrens erhoben, die multiple Persönlichkeit steht fürs mediale Geflecht.“ (S. 239) In der Wissenschaft definiert Michel Foucault Wahnsinn als gesellschaftliches Konstrukt als Resultat von Mechanismen der Ausgrenzung und Einschluss.

Wahnsinn als Methode: Wenngleich Nabokovs Erzählung keine traditionelle Doppelgängergeschichte ist, ist die Methode denen von Shakespeare, Edgar Allan Poe und Arthur Conan Doyle gleich: Es findet sich die Konstellation von scheinbar wahnsinnigem Künstler und einem für die Kunst blinden Un-Künstler. Der Künstler „produziert den Wahn als sinnvolles künstlerisches Verfahren“ (S. 241), der Un-Künstler betrachtet den künstlerischen Effekt beziehungsweise Wahn lediglich von außen als Verfahren. Die literarische Beschreibung des Wahnsinns erfordert zwei Instanzen, die Produzierende und die Re-Produzierende. Die Abspaltung des Projektors von der Projektion richtet sich nach zwei Modellen: (1) „als Spaltung zwischen der Erzähl- bzw. der Perzeptionsinstanz, dem Projektor, und der erzählten bzw. perzipierten Instanz, der Projektion“ (S. 241), (2) „als Spaltung des Wahnsinnigen selbst in Erzähl- bzw. Perzeptionsinstanz und erzählte bzw. perzipierte Instanz“ (S. 241).

Mediale Verdoppelung als Ver- und Enthüllung des Verfahrens: Die Methode des Detektivs zur Aufdeckung eines Verbrechers und des Vorgehens des Wahnsinnigen ist dieselbe, nämlich ein Spiel mit der Identität. Das metafiktionale Vorgehen des Autors kann innerhalb der textuellen Welt gedoppelt und so offengelegt werden. Nabokovs Strategie bezieht sich hauptsächlich auf den Leser. Dieser wird beständig von Hermann angesprochen und ist so gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Textes. Letztlich macht Nabokov aus dem Leser „Opfer und Täter zugleich“ (S. 246). Die Position Hermanns ändert sich im Laufe der Erzählung vom allwissenden Autor dazu, dass er „selbst ins visuelle Medium hineingezogen“ (S. 244) wird. Mehr noch, bei Nabokov erlangt das Medium Sprache als Bild ein Eigenleben, indem sie als lebendige Dinge fungieren. Verdoppelt wird im Text gleichfalls das Sujet, die sich einander unterbrechenden und überblendenden Sujets des literarischen, sukzessiv aufgebauten und das asychrone, filmische Sujet.

Gute und schlechte Medien: Der Detektiv als Wahnsinniger – Der Wahnsinnige als Detektiv: Wie der Wahnsinnige verfährt auch der Detektiv, indem er sich „in einen anwesend-abwesenden Zustand der Verdoppelung“ (S. 248) versetzt, also sich suggestiv in eine andere Rolle hineindenkt, quasi zum Doppelgänger wird. Bei Nabokov fungiert Hermann als Schauspieler und Medium: Schauspieler ist er in seiner Rolle als unglaubwürdiger Erzähler, Medium aufgrund seines seelischen Zustandes, denn er „fühlt sich wie ein leeres, transparentes Gefäß, das bereit ist, neue Inhalte aufzunehmen“ (S. 250).

Zunehmende Dominanz des Visuellen bei der Inszenierung des Doppelgängers: Die seit der Antike bekannte um im 19. Jahrhundert am Höhepunkt angelangte Figur des Doppelgängers ist eng mit dem Visuellen verbunden. Im 19. Jahrhundert ist die literarisch vorbereitete Visualisierung medial umgesetzt worden. So „mündet sie bei Nabokov im anderen Medium, indem sich das Genre filmisch verdoppelt“ (S. 253), die Erzählung kann betrachtet werden als Drehbuch oder als Roman. Nabokov formuliert traditionelle Strategien der Verdopplung kinematografisch neu, so dient beispielsweise die Spiegelszene „als Eröffnungsszene der im anderen Medium verkörperten Doppgelgängerei“ (S. 254). Zimmermann definiert Nabokovs Roman, in dem Doppelgängerstrategien und Requisiten umgesetzt sind, als „nicht realisierte Doppelgängergeschichte“ (S. 255), unter anderem, da Hermann und Felix beide Originale sind und sich nicht einmal ähneln. Das auf die mediale Ebene gebrachte Doppelgängertum spiegelt sich auch wieder in den beiden Figuren Hermann und Felix, die für zwei verschieden und medial bestimmte Genres stehen, der Schokoladenfabrikant Hermann für den Stummfilm, der Musiker Felix für den Tonfilm.

Medialisierung des Wahnsinns in der Medizin. 5.1 Der Geisteskranke als Medium zwischen Virtualität und Realität: „In der Medizin des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde die Geisteskrankheit als ein Grenzbereich zur virtuellen, fiktionalen Traum- und Kunstwelt aufgefaßt (Foucault 1968, 116).“ (S. 257) Die als Illusion entlarvte ‚Krankheit‘ Hysterie, deren pathologische Syndrome durch die Macht von Imagination und Suggestibilität bedingt sind, ist zugleich mit Illusion (Mesmerismus und Hypnose) behandelt worden. Nabokov lehnte Freuds Theorien, die sich auch mit der Hysterie beschäftigten, ab, und parodierte sie vielfach, unter anderem mit der Figur Hermann. Virtualität und Realität spiegeln sich in Otčajanie in der Verschmelzung von Raum, Zeit und Objekt, die der filmischen Techniken der Überblendung und der Montage ähneln. 5.2 Geisteskrankheit und/als Kunst: die mediale Speicherung des Wahnsinns: Im 18. Jahrhundert erschien Johann Casper Lavaters (1741-1801) Theorie der Physiognomik (Physiognomische Fragmente, 1775), er ging davon aus, dass das Äußere das Innere, das moralische Leben, spiegelt, das Äußere also das Medium des Inneren darstellt. In der Literatur und Kunst wurden seine Taxonomien parodiert und ironisch verarbeitet, besonders zugespitzt in Genio e follio (1864) von Cesare Lombroso. In der Medizin wurde gleichzeitig immer öfter Kunst, vor allem Malerei und Fotografie, zum Speichermedium der Geisteskrankheit. „In Otčajanie/Despair werden Kunst, Verbrechen und Wahnsinn untrennbar miteinander verflochten, sogar austauschbar.“ (S. 263) Der vormals ver-körperte Wahnsinn des Doppelgängers wird zum Ende des 19. Jahrhunderts schließlich vollständig in-korporiert, die Gespaltenheit wird ins Innere verlegt.

Intermediale Spaltung des Wahnsinns: In der Literatur wird Wahnsinn durch visualisierte Beschreibungen realisiert, im Film hingegen wird „die inszenierte Intermedialität zur echten, realisierten Intermedialität“ (S. 268). 6.1 Implosion des Wahnsinns in der Literatur: Ornamentalisierung: Für Tsvetan Todorov (*1939) hat die Psychoanalyse die Literatur abgelöst und ersetzt, das Phantastische entzaubert und der Wahnsinn wurde rationalisiert und entmystifiziert. So erscheint auch in Otčajanie der Wahnsinn nur noch als Ornament. Nabokov thematisiert „die erotische Wirkung der neuen Medien“ (S. 271), den Film, die Fotografie, aber auch die neue Technik des Röntgens. 6.2 Explosion des Wahnsinns im Film: das Medium Film als Geisteskrankheit: Analyse und Reflexion des Films als Medium gestaltete sich von Beginn an schwierig. Walter Benjamin (1892-1940) interpretiert den echten Theaterschauspieler in der Reproduktion auf der Filmrolle als Verwandlung „zu einem durch die Kamera gespeicherten Doppelgänger“ (S. 271). Wie auch der literarische Doppelgänger wird er zu in einem virtuellen Schatten, er wird zu einer Maske, zum Requisit. Durch die Austauschbarkeit von Sehen und Erleben wird zugleich der Zuschauer zum Doppelgänger, denn die „filmische Fiktion überdecke das Leben“ (S. 272). In Nabokovs Otčajanie findet sich dieser aktive Einbezug des Leser-Betrachters in den regieartigen Anweisungen Hermanns: „Held und Leser werden in den endlosen, intermedialen Kreis hineingezogen. Der Traum selbst wird zum Trauma ausgebaut, zu einem nie zu Ende geträumten Traum, zu einem intermedialen Zirkel ohne Anfang und Ende.“ (S. 275)


Mit ihrer Arbeit zum Doppelgänger als intermediale Literatur formuliert Zimmermann deutlich, was in früherer Forschung angedeutet worden ist. Sie trägt einen großen Teil zur Intertextualitäts-/Intermedialitätsforschung bei und bietet Anregungen für weitergehende Betrachtungen, auch anderer Werke.