I. Wellbery untersucht die Struktur des Erzählprozesses in der Erzählung Prinzessin Brambilla von E.T.A. Hoffmann mithilfe des methodologisch innovativen Begriffs rites de passage von Arnold van Gennep (1873-1957), womit die „Verlaufsfigur, die vor jeder inhaltlichen Konkretisierung den Ritus in seiner Prozeßhaftigkeit organisiert, zum Gegenstand“ (S. 317) gemacht wird. In drei Phasen entfaltet sich die Prozessform: (a) Trennung des Subjekts aus einem bestimmten sozialen Status (präliminal), (b) Phase des Übergangs (liminal, also auf einer Schwelle zentriert), (c) Inkorporation des Subjekts in einen neuen Status (postliminal). Diese drei Phasen bilden eine übergreifende Einheit, die van Gennep in seinem funktionalistischen Ansatz mit rites de passage bezeichnet: „Mit diesem Begriff erfaßt van Gennep zum ersten Mal die Funktion, die durch die zahllosen, in diversen Kontexten eingebetteten rituellen Vorgänge geleistet wird: sie sind allesamt dazu da, um den Übergang (passage) des Subjekts von einer sozialen Kategorie zu einer ihr opponierten zu bewirken.“ (S. 317) Die Relevanz des Begriffs weist Wellbery anhand Hoffmanns Erzählung nach.
II. Wellbery vergleicht Hoffmanns Prinzessin Brambilla mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, um die Relevanz der Initiationsproblematik für die Interpretation aufzuzeigen. Bereits die erste Szene weist Parallelen auf, unter anderem in der Konfiguration Giacinta-Beatrice und Mariane-Barbara. Wellbery erkennt eine dialogische Beziehung der beiden Werke, die eine doppelte Tendenz hat: (1) Sozialisierung des Helden, (2) der psychologische Zustand zu Beginn der Geschichte. Die Beziehung der Werke beschreibt Wellbery folgendermaßen: „Hoffmann ist […] der unpsychologischste aller Schriftsteller. […] Der psychologisch und kausal motivierte Initiationsprozeß des Goethischen Bildungsromans wird in Hoffmanns Capriccio formalisiert zu einem literarisch inszenierten Ritual.“ (S. 324) Hoffmanns Erzählung zeichnet sich durch die Ambivalenz des Zwischen aus, als Freisetzung des narrativen Potenzials von Liminalität, da sich der Autor mit der Signalisierung der Inkorporation von Giglio in einen neuen Status begnügt. Die typischen Elemente für den rite de passage sind unter anderem die Abtrennung von der Umwelt in eine soziale Ortlosigkeit, das Abstreifen der üblichen Kleider, neue Kostüme, ein über den Prozess herrschender Kundiger, symbolische Markierung während der liminalen Phase. Es geht um das Ablegen einer früheren Identität, wodurch Liminalität als ein Indifferenzbereich zwischen Leben und Tod zu betrachten ist. Alle von Wellbery gelisteten Elemente finden sich bei Hoffmann wieder. Zwar wird dieses Phänomen nicht adäquat erklärt, weil es nicht möglich ist, jedoch kann vorausgesetzt werden, dass „sich die erwähnten Elemente des rituellen Vorgangs ein gewisses Nachleben in diversen, Hoffmann bekannten Zeremonien und symbolischen Prozeduren erfreuten. Ebenfalls vorauszusetzen ist, daß Hoffmann auf vorliegende Wissensbestände rekurrieren konnte“ (S. 326). Hoffmann versetzt die Sozialisationsproblematik in den Bereich der Liminalität, durch das Erzählen im Erzählen wird dann die liminale Schwellenwelt mit Tiefendimensionen und Figurenreichtum versorgt. Hauptmerkmal der Liminalität Hoffmanns ist die diegetische Verwirrung, in der Unterschiede gleichzeitig gesetzt und durchkreuzt werden. Semantische Konsistenzen ergeben sich aus der Orientierung an drei Bezugsproblemen: (1) doppelschichtige Sozialisationsproblematik (wirtschaftlich und erotisch), (2) psychologische Problematik (Ichbefangenheit führt in ein unglückliches Bewusstsein), (3) künstlerische Problematik (Tragödie vs. Commedia dell‘arte). Die Zweckmäßigkeit der Liminalität ergibt sich aus diesen drei Problemen: Die Liminalität ermöglicht den Bezug der drei Probleme aufeinander, sie können sich gegenseitig vertreten und sind ständig präsent. In der Figur der Subjektivität schließlich kommen sie zusammen.
III. In Prinzessin Brambilla finden sich vermehrt Leseranreden, die wichtig sind „aufgrund der Reflexionsbewegung, die sie beim Leser in Gang setzen.“ (S. 333) Die Anreden haben auf den Leser den Effekt, ihn einerseits aus der Welt auszuschließen, andererseits genau ihn in die Textwelt einzuschließen, „angeleitet wird der Leser zum Beobachten des eigenen Beobachtens und dessen Paradoxie.“ (S. 333) Wellbery stellt die Hypothese auf, dass Hoffmann die goethezeitliche Sozialisationsproblematik aufgreift und durchspielt, um den Leser zu fordern, „dessen Sinnvertrauen erschüttert wird, […] der sich zu bewähren hat im Durchspielen der Schwellenparadoxie. […] In diesem Lesen, das die Paradoxie der Schwelle aushält, wird ästhetische Subjektivität aus sich selber klug.“ (S. 334) Er schließt: „Nicht die Gewinnung einer Lebensform war Hoffmanns historisch-ästhetische Aufgabe, sondern die Einübung in ihre humoristische Lektüre. Sie vollzieht sich als rite de passage.“ (S. 335)
Unter Rückgriff auf einflussreiche Werke deutscher Literatur erläutert Wellbery die Relevanz des Begriffs rites de passage. Auf neuartige Weise untersucht er auch die Leseranreden in Hoffmanns Prinzessin Brambilla, eins der wesentlichen Merkmale seiner Werke. Seine Beschreibung eines Übergangsritus, sein ethnologisches Konzept, ist in Hinblick auf Mythen, Märchen, und andere Literatur aufschlussreich.
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