Grundstrukturen von Kafkas Beschreibung eines Kampfes und die Identitätskrise des Subjekts seit dem Fin de siècle: Kafkas Beschreibung eines Kampfes liegt in Fassung A (vermutlich 1904/07) und Fassung B (vermutlich 1909/10) vor, wovon sich erstere von zweiter Fassung vor allem durch eine Rahmenhandlung inklusive unterbrechenden Binnenerzählungen unterscheidet. Die bisherige Forschung hat sich mit dem Werk schwergetan und Fehlinterpretationen vorgelegt (u.a. Walser, Henel, Richter, Rolleston). Das Anliegen von Neymeyr besteht im Nachweis einer kunstvollen und durchdachten Konstruktion Kafkas in diesem Werk: „Durch die Konstruktion phantastischer Imaginationsräume entfaltet er ein psychologisch genau differenziertes Geschehen.“ (S. 9) Indem er die durch Persönlichkeitsspaltung des Erzähler-Ichs hervorgerufenen antagonistischen Konstellationen in den Vordergrund stellt, bezieht sich Kafka im Kontext seiner Epoche auf zeitgenössische psychologische und philosophische Diskurse der Identitätskrise. Gegenübergestellt werden im Text das einsame Ich und der lebensfrohe Bekannte, weiter treten auf der Dicke und der Beter als derivierte Ich-Komponenten. Die Interaktion zeichnet sich aus durch Komplexität, hervorgerufen durch die Dissoziation des Ich und der unaufhebbaren Assoziation seiner Komponenten. Die verfremdete und inkohärente Welt im Text entsteht durch die Verlagerung innerer Vorgänge in äußere und wird zur surrealen Seelenlandschaft. Auf diese Weise wird der Leser gefordert, nach dem Sinn zu suchen. Im Text durchdringen sich die Sphären wechselseitig, Personen werden verdinglicht und Dinge personifiziert – hierin zeigt sich das Charakteristikum von Kafkas Arbeit, nämlich das „Spektrum phantastischer Entgrenzungs- und Auflösungstendenzen“ (S. 14), bestimmt durch die gesellschaftliche Krisensituation der Epoche. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Arbeiten Freuds, die Kafka bekannt waren.
Das Thema der Ich-Dissoziation in der Philosophie, Psychiatrie und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts: In der Philosophie beschäftigten sich schon die Konzepte von Schopenhauer (1788-1860) und Nietzsche (1844-1900) mit der Krise des Subjekts. Bei Schopenhauer ist der Wille der Antagonist der Erkenntnis, Nietzsche denkt die Begriffe Subjekt, Seele und Substanz als obsolet und illusionär und spricht von der Mehrheit der Person. So entspricht der Kampf bei Kafka diesem Antagonismus der Pluralität der Persönlichkeitskomponenten. Im psychiatrischen Diskurs wird sich vor allem mit „der Symptomatik der sogenannten ‚multiplen Persönlichkeit‘ und ihren periodisch ganz disparat erscheinenden Aspekten beschäftigt.“ (S. 26) Analog zur Darstellung der multiplen Persönlichkeit in psychiatrischen Fallstudien sind die von Kafka beschriebenen Vervielfältigungen des Ich zu betrachten, eine Bestätigung für die These der Instabilität des Ichs. In der Literatur beschäftigten sich vor allem Jean Paul und E.T.A. Hoffmann mit der Thematik des Doppelgängers.
E. T. A. Hoffmanns Doppelgänger-Erzählung Die Abenteuer der Sylvester-Nacht als literarisches Modell für Kafkas Beschreibung eines Kampfes: Hoffmanns Texte beeinflussten neben Poe, Dostojewski und Ewers auch Kafkas literarisches Schaffen. Neymeyr stellt heraus, dass Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht für Kafka vor allem wegen der Gesamtkonzeption, des Kompositionsprinzips und der narrativen Verfahren als literarisches Modell fungiert. Bei beiden Autoren wird durch die Doppelgängerfigur das Thema der Identitätsauslösung und die damit verbundene psychische Destabilisierung thematisiert und ausgedrückt, bemerkenswert ist dabei der von der Forschung bisher wenig beachtete intertextuelle Verweis Kafkas auf den Text von Hoffmann.
Die Multiplikation der personalen Perspektive als Erzählstrategie Kafkas zur Darstellung der Ich-Dissoziation: Neben der inhaltlichen Bearbeitung des Krisenbewusstseins ist das Thema der Desorientierung zahlreich auf der konzeptuellen Ebene literarischer Texte zum Ausdruck gebracht worden. So forderte beispielsweise Hermann Bahr (1863-1934) „in seinen Essays eine der Identitätsproblematik der Moderne angemessene Prosa, die das dissoziierte Ich und die Vielfalt seiner heterogenen Empfindungen mithilfe innovativer Gestaltungsweisen […] darzustellen vermag.“ (S. 37) Als besonders geeignet erweisen sich dafür neuartige personale Erzählformen, die subjektive und psychische Aspekte in den Vordergrund stellen und so eignet sich diese narrative Strategie „besonders gut dazu, die Ich-Dissoziation als paradigmatischen Ausdruck der modernen Identitätsproblematik zu gestalten.“ (S. 38) Bei Kafka dient das Erzählen der Stabilisierung des labilen Ichs, die Krisensituation der Moderne wird so nicht nur in Bezug zum Thema, sondern auch in der Form des Textes ausgedrückt. Komplexität erlangt der Text schließlich durch „die Konstruktion phantastischer Imaginationsräume“ (S. 42), wodurch dem Leser eine intensive und aufmerksame Lektüre abverlangt wird.
Neymeyrs Neuinterpretation und Ansatz sind neuartig und gewinnbringend. Vor allem die Darlegung der Verfahren und Herstellungsweisen phantastischer Entgrenzung, vorgebracht durch Verdinglichung und Personifizierung, bieten eine interessante Interpretation und Anregungen für weitergehende Forschungen.
Kommentare