E. T. A. Hoffmanns Erzählung Die Abenteuer der Sylvester-Nacht, erschienen 1815 und angeregt durch Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte, thematisiert nicht nur den Wechsel zwischen Phantasie und Alltagswirklichkeit, sondern auch pathologische Identitätskrisen, vor allem „Symptome von Traumverlorenheit, Selbstentfremdung und Realitätsverlust“, verbunden mit „dem Ausdruck extremer emotionaler Ambivalenz“ (S. 60f.). Der dargestellten psychischen Verfassung der Identitätsauflösung entspricht Hoffmanns komplexe Erzählstrategie: Die zentrale Thematik wird gespiegelt in der Dekomposition des Textes, der Zerlegung des Textes in vier unterschiedliche Geschichten, zugleich in den Figuren, die den Prozess der unaufhaltsamen Depersonalisierung darstellen. Durch die vielen Doppelgänger-Gestalten auf diversen Fiktionalitätsebenen und die fehlenden relativierenden Perspektiven bleibt der Leser dem Geschehen ausgeliefert.
Ausgang des Geschehens ist die Zeiterfahrung des reisenden Enthusiasten, so wird beispielsweise gleich im ersten Kapitel die Gegenwart entwertet und die universelle Vergänglichkeit erfahren. Daneben bringen auch die imaginäre Metamorphose und die daraus resultierende Doppelgänger-Konstellation von Giulietta und Julie die inneren Ambivalenzen zum Ausdruck. Die Individualität der Figuren löst Hoffmann auf, indem er sie wie Gemälde erscheinen lässt.
Im zweiten Kapitel beginnt die Ich-Dissoziation, „daran zu erkennen, dass die für die Konsistenz der Persönlichkeit wesentliche zeitliche Ordnung entfällt“ (S. 63). Die Zeitordnung hebt sich auf und in der Folge der beginnenden Identitätskrise entwickelt der Enthusiast doppelgängerische Projektionsfiguren. Daneben wird auch allmählich die räumliche Einheit aufgehoben.
Im dritten Kapitel, entlang der Schlüsselszene der Spiegel-Episode, zeigt sich der durch Liebeskummer verursachte Identitätsverlust: „Der Verlust der Paar-Beziehung führt hier psychologisch konsequent zur Spaltung des vereinsamten Ich in eine imaginäre Ich-Du-Konstellation.“ (S. 66) Darüber hinaus spielt Hoffmann mit den Fiktionalitätsebenen, wenn er sich textuell mehr und mehr auf Chamissos Text bezieht.
In Hoffmanns Erzählung finden sich zahlreiche intertextuelle Verweise. Aufschlussreich sind dabei die Parallelen zu Chamissos Peter Schlemihl, zu Werken von Jean Paul, vor allem zu Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht (1800). Darin wird die Identitätsproblematik ebenfalls inszeniert durch ein sich zum Doppelgänger verselbstständigendes Spiegelbild. Die Abenteuer der Sylvester-Nacht selbst ist breit rezipiert worden, so zum Beispiel ist der Text die „Basis für die Travestie der Doppelgänger-Problematik in Gogols Novelle Die Nase von 1836“ (S. 73), aber auch bei Kafka wiederzufinden. Grundmotive des Texts sind auch in Der Meister und Margarita (1928-1940) von Michail Bulgakow zu finden. Durch die intertextuellen Bezüge legt Neymeyr zum Schluss nahe, dass Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht ein „Schlüsseltext für den Beginn der phantastisch-surrealistischen Literatur im 20. Jahrhundert“ (S. 74) ist.
Neymeyr legt die Bedeutung von Hoffmanns Die Abenteuer der Sylvester-Nacht dar. Sie argumentiert mithilfe des Aufdeckens zahlreicher intertextueller Verweise, dass die Erzählung als ein Schlüsseltext zu betrachten ist. Dabei geht sie noch einen Schritt weiter als die bisherige Forschung, da sie bisher nicht gefundene Intertexte aufzeigt und den weiten wirkungsgeschichtlichen Horizont betrachtet.
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