Lüthi (1947): Das europäische Volksmärchen

Lüthi, Max: „Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen.“ Bern 1947.
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„In den Glasperlen des Märchens spiegelt sich die Welt.“

S. 97

Vorwort und Einleitung: Die vorgelegte Arbeit ist eine literaturwissenschaftliche Darstellung und eine Untersuchung des Märchens als Erzählung. Es sollen die Wesenszüge des europäischen Volksmärchens herausgearbeitet, jedoch keine vergleichende Charakteristik der einzelnen Ausprägungen gegeben werden. Außereuropäische Formen bleiben ebenso außen vor. Lüthi nennt das europäische Volksmärchen das „wirkliche Volksmärchen“ (S. 7), das seinen Ausgang in Frankreich mit Charles Perrault (1696/97) und seinen moralisierenden Dichtungen hat. Als neue Form hat es seinen Reiz und eine besondere Wirkkraft und ist im Gegensatz zum Volkslied geheimnisvoller. Das Besondere liegt in der Verwebung von Alltäglichem und Wunderbarem, sein Geheimnis liegt in seiner Gestalt. Lüthi untersucht fünf zentrale Wesenszüge des europäischen Volksmärchens: (1) Eindimensionalität, (2) Flächenhaftigkeit, (3) Abstrakter Stil, (4) Isolation und Allverbundenheit, (5) Sublimation und Welthaltigkeit. Diese Untersuchung erfolgt stets in Abgrenzung zu verwandten Gattungen wie Legende oder Sage.

(1) Eindimensionalität: Im Märchen ist alles auf derselben Dimension angesiedelt. Jenseitige, örtlich fern, aber geistig-erlebnismäßig nah, treten zumeist als Helfende, Schädiger oder Ratgebende auf, der meist diesseitige Held hingegen als Handelnder und als jemand, dem innere Bewegung fehlt. Obgleich Jenseitige selten mit Diesseitigen leben, sind sie als selbstverständlicher Teil der Märchenwelt den diesseitigen Gestalten gleichgestellt, zwischen ihnen fehlt der Abstand: „Das Wunderbare ist dem Märchen nicht fragwürdiger als das Alltägliche.“ (S. 15) Das heißt: Zwar werden diesseitige von jenseitigen Gestalten unterschieden, aber sie stehen nebeneinander und pflegen einen unbefangenen Umgang miteinander.

(2) Flächenhaftigkeit: Das Märchen verzichtet auf räumliche, zeitliche, geistige und seelische Tiefengliederung. Statt eines Ineinander und Nacheinander findet alles nebeneinander auf derselben Fläche statt, so wird alles Räumliche in die Figuren und die figuralen Vorgänge verlagert.

(3) Abstrakter Stil: Den abstrakten Stil des Märchens machen seine starren Formen, seine Bevorzugung der Dreizahl und der formelhaften Rundzahlen, seine Wiederholungen und Sprüche, seine formelhaften Anfänge und Schlüsse, seine Einsträngigkeit, Mehrgliedrigkeit und seine Präferenz für Extreme und Wunder aus. Der abstrakte Stil gibt dem Märchen seine Formkraft, festen Umriss und gleichzeitig sublime Leichtigkeit.

(4) Isolation und Allverbundenheit: Das Grundmerkmal der Märchenform ist Isolation und Allverbundenheit, die sich gegenseitig bedingen. Durch Isolation, das beherrschendes Merkmal für den abstrakten Stil, zeichnen sich vor allem die Figuren aus: Jen- wie Diesseitige sind nicht in kein feste Beziehungsgefüge eingebunden, sondern in Handlungs- und Kontrastbeziehungen. Sie stehen isoliert, und besitzen auch keine Innen-/Umwelt oder Vor-/Nachwelt. Isoliert werden auch die aus Episoden bestehende Handlung,  die einzelnen Situationen und Verhaltensweisen gezeigt. Diese Isolation beweist sich auf sprachlicher Ebene: Da jede Episode, jede Erfahrung, für sich stehen, wird der Zwang zur Wiederholung verständlich. Dadurch, dass die Figuren isoliert durchs Leben gehen und an nichts und niemanden gebunden sind, werden sie kontaktfähig, hierin zeigt sich also ihre universale Beziehungsfähigkeit, ihre Allverbundenheit. Das heißt: Die potentielle Allverbundenheit und Isoliertheit sind Korrelate, sie bedingen einander. Da sich im Märchen alles gleich nah und gleich fern ist, da alles isoliert ist, ist alles universal beziehungsfähig. Die vollkommene Verkörperung dieses Grundmerkmals erkennt Lüthi in der Gabe, dem Wunder, dem stumpfen Motiv.

(5) Sublimation und Welthaltigkeit: Das Märchen zeichnet sich dadurch aus, dass es alle Motive in sich aufnehmen, sublimieren kann. Eigene Märchenmotive gibt es im Grunde genommen nicht, vielmehr wird jedes Motiv, das verwendet wird, zum Märchenmotiv: Es sind Gemeinschaftsmotive, die profanem Geschehen entstammen und Alltägliches umfassen können. Beinhaltete das Märchen auch Magisches, hat es sich im Laufe der Zeit verflüchtigt, dem Märchen fehlt das Erlebnis des Jenseitigen, das Numinose. Die Personen des Märchens „sind eben nicht Typen, sondern reine Figuren“ (S. 87), nicht-individualisierte Handlungsträger. Die Sublimation macht auch die Welthaltigkeit des Märchens aus, noch einmal: „die sublimierende Kraft des Märchens schenkt ihm die Möglichkeit, die Welt in sich aufzunehmen. Das Märchen wird welthaltig.“ (S. 89) Märchenform bekommen Motive, indem sie im Märchen aufgenommen und ihrer vormals vielleicht erotischen oder magischen Bedeutung entleert werden. Das Märchen kann also die Welt in sich aufnehmen, die „Fülle der menschlichen Möglichkeiten“ (S. 94) zeigen, und so kann in ihm alles möglich werden. Es umfasst alle „Pole des Seins: Enge und Weite, Ruhe und Bewegung, Gesetz und Freiheit, Einheit und Vielfalt.“ (S. 95)

Schluss: Funktion und Bedeutung des Märchens: „Es stellt sich die Frage nach Sinn und Funktion des Märchens im Gefüge des menschlichen Daseins.“ (S. 98) Umfassend beantworten lässt sich diese Frage mithilfe verschiedener Wissenschaften und erst zu einem späteren Zeitpunkt, denn „vom Gesichte des Märchens muß sich seine Funktion ablesen lassen.“ (S. 98) Vorläufig hält Lüthi fest: Das Märchen dient nicht nur der Unterhaltung, sondern kann auch Lebenshilfe sein und wird zugleich zu einer „ernsthaften Geschichtsquelle“ (S. 99). Literaturwissenschaftlich interessant ist, wie allzu Alltägliches, wie „alle Wirklichkeit“ (S. 99) versprachlicht wird und eine solch hohe Popularität und Relevanz erhalten hat. Es ist eine der ersten Formen der Weltbewältigung. Neben das Märchen stellen sich Legende und Sage; zusammen drei Formen, die „jahrhundertelang nebeneinander her [laufen], ohne daß eine eigentliche Vermischung eintritt“ (S. 100). Im Gegensatz zu anderen literarischen Gattungen ist beim Märchen wichtig:

Es deutet und erklärt nicht, es schaut nur und stellt dar. Und diese traumhafte Schau der Welt, die nichts von uns fordert, keinen Glauben und kein Bekenntnis, sie ist sich selbst so selbstverständlich und wird mit solcher Notwendigkeit Sprache, daß wir uns beglückt von ihr tragen lassen. […] Das Märchen ist Seinsdichtung und Seinsollensdichtung in einem.

S. 102 ff.

Als Erzählung, letztlich, erlaubt das Märchen zwar Deutungen, Lüthi weist jedoch darauf hin, dass Einzeldeutungen am Wesen des Märchens vorbeigehen und ihm nicht gerecht werden können. Zum Schluss klärt Lüthi auf, dass das Märchen, entgegen der Vermutungen über das Volksmärchen, zwar nicht vom Volk geschaffen wurden, sondern ein Produkt hoher Kultur ist, aber trotzdem auf die mündliche Tradierung durch das Volk angewiesen ist.


In gut verständlicher, nachvollziehbarer und klarer Weise gelingt Lüthi eine wegweisende Arbeit zum Märchen. In Abgrenzung zu Sage und Legende stellt er treffend die Merkmale des  europäischen Volksmärchens dar und erklärt plausibel, wie das Märchen alles in sich aufnehmen kann.