Lachmann (2002): Erzählte Phantastik

Lachmann, Renate: „Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte.“ Frankfurt am Main 2002. (Hier: „Trugbilder und ihre Poetologie“, S. 29-44.)
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„Mit der romantischen Poetologie wird das Phantastische Gegenstand ästhetischer und moralischer Beurteilung, in der sich eine grundsätzliche Zwiespältigkeit manifestiert.“ (S. 29) Phantasie als Vermögen und Phantastik als Schreibweise lassen sich dabei kaum voneinander unterscheiden. Philosophie, Rhetorik und Poetik sind die drei korrelierenden Disziplinen, die die Bewertung der Phänomene entwickelten.

1.       Phantasie und Phantastik werden zwiespältig eingeschätzt und ihre Geschichte geht weiter zurück als die der phantastischen Schreibweise des 18./19. Jahrhunderts. Ihre Anfänge finden sich in der Antike, dabei ist Einbildungskraft das zentrale Stichwort, Dar- und Entstellung werden dabei besonders betrachtet. Walter Scott unterscheidet 1827 zwischen gesunder und angemessener Einbildungskraft, imagination, und der krankhaften, exzessiven Abart, fancy. Phantastik wird bei ihm zur Verfälschungsinstanz, ihre Zeichen Trugbilder, die die Welt entfremden. 1825 nennt Charles Nodier mensonge die „poetische Befreiung gebundener (zivilisierter) Einbildungskraft, […] die kreative Lizenz, alles anders zu sehen und zu sagen. Lüge tritt als Verwandlungsstrategie in verbale Erscheinung, als totalitäre, metamorphotische Macht“ (S. 32).

2.       Bereits in der barocken Poetik sind die Krise der Ähnlichkeit, das Verhältnis von Wirklichkeit und Bild, Trug und Täuschung thematisiert worden. Das ingenium als eine Version der Phantasie erzeugt dabei eine theatralische Bilderflut, die künstliche ingeniöse Ähnlichkeiten zwischen den Dingen hervorbringt. Das Produkt einer in der Unähnlichkeit der Dinge hergestellten Ähnlichkeit ist das concetto beziehungsweise die acutezza. In Bezug zu Aristoteles beschäftigten sich die Concettisten mit dem Affekt der Verwunderung (thaumaston), hervorgerufen durch die Schilderung des Wunderbaren und Fremdartigen. Ihr poetisches Inventar umfasst Trugschlüsse, Trugbilder und Trugzeichen, und es „scheint, als sei jedem Zeichen ein Gegenzeichen als falsches und trügerisches, als simulacrum eingeschrieben“ (S. 34). Simulacrum, als Begriff der antiken Tradition der Rhetorik entnommen, liest Lachmann als Äquivalent zum aristotelischen phantasma, bei Aristoteles Trug- und Echtbild zugleich. Bei Cicero und Quintilian sind die Begriffe effigies, simulacrum, imago und visio zentral, die den Zwiespalt zwischen gesunder und krankhafter Einbildungskraft darstellen.

3.       Phantastische Texte bedürfen wegen ihres Sinnüberschusses einer Deutung. Die Kritik an der Phantasie im 18. Jahrhundert galt der vermeintlichen „Normverstöße der Phantasie als eines Vermögens, Unwahrscheinliches auszudenken und darzustellen“ (S. 37). 1741 erklärt Johann Jacob Bodmer (1698-1783), die „vom Verstand unbeobachtet wirkende Phantasie“ (S. 37) habe eine eigene Logik und vergegenwärtige die dargestellten Dinge, das Unerforschte und Fremde gilt als abenteuerlich. In phantastischen Texten wird das dualistische Widerspiel von wirklich/unwirklich, fremd/eigen zum Ausdruck gebracht. Das in den Texten thematisierte Phantasma selbst wird hinterfragt. Wegen seiner Ambivalenz wird es zum Trugbild, zum Simulakrum – gleichzeitig leitet der phantastische Text dazu an, es gleichzeitig als Bild zu lesen, es also als ein Doppelzeichen zu begreifen.

4.       Bereits in den Poetologien des Mittelalters, beispielsweise bei Giovanni Pico della Mirandola und Giordano Bruno, wurde die Phantasie aufgrund einer auf Verstellung, Verwandlung und Umschöpfung der vorfindlichen Dinge zurückgehenden Hybris dämonisiert. Erst mit Bodmer änderte sich das Bild der Phantasie zum Positiven. Lachmann sieht in den Texten von Hoffmann, Poe oder Brown eine Verschleierung der Autorschaft, eine Suspendierung auktorialer Verantwortung.

5.       Phantastische Texte erfahren seit jeher eine gesellschaftsmoralische Auf- und Abwertung. Für Rosemary Jackson liegt die Bedeutung der Phantastik für den kulturellen Prozess im Kompensatorischen, das Verdrängte Bearbeitende. Eine Gegenposition dazu bezieht Lars Gustafsson, der „gerade die phantastische Verunklarung für bedenklich hält“ (S. 42). Ästhetisch betrachtet, zum Beispiel bei Nabokov, „ist das Phantastische ein poetisch konstruierter Verblendungszusammenhang, der demjenigen, den die Welt, das monströse Falsifikat, immer schon darstellt, mit einer Flut von Trugbildern antwortet“ (S. 43). Phantasmagorie wird zur Erlösung, indem sie die Konstruktion des Wirklichen aufdeckt. Als ‚Phantastik-Optimismus‘ bezeichnet Lachmann die „Erkundung des Unbekannten, die Erkenntnisgewinn und Befriedigung der curiositas verheißt“ (S. 44).


In Rückgriff auf historische Konzepte und Entwicklungen erläutert Lachmann den Komplex Trugbilder sowie ihre Poetologien. Der geschichtswissenschaftliche Exkurs bietet viel für das Verständnis romantischer Konzepte und der Veränderungen der Bilder und Motive, mit denen in literarischen Texten gearbeitet wird. Besonders interessant ist dabei die damit zusammenhängende kulturwissenschaftliche Arbeit, die mehr Aufschluss bieten kann, indem literarische Texte stets epochenbedingtes Wissen und kulturelle Gegebenheiten widerspiegeln. Lachmann bietet somit den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen.