Lacan (1991): Schriften I

Lacan, Jacques: „Schriften I.“ In deutscher Sprache herausgegeben von Norbert Haas. 3. Auflage. Berlin 1991. (Hier: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, S. 61-70.)
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Der Begriff des Spiegelstadiums, von Lacan eingeführt, verdeutlicht die Funktion des psychoanalytisch interessanten Ich. In diesem Spiegelstadium ist das „Menschenjunge“ (S. 63) ab dem sechsten bis zum achtzehnten Lebensmonat, noch bevor ihm das aufrechte Sitzen gelingt, in der Lage, für eine kurze Dauer sein Spiegelbild als solches zu erkennen. Das Erkennen ist gekennzeichnet vom sogenannten Aha-Erlebnis „als einem wichtigen Augenblick des Intelligenz-Aktes“ (S. 63). In Folge des Erkennens beginnt das Kind, diese gedoppelte Realität zu untersuchen. Dieses Spiel mit dem Spiegelbild zeugt von libidinösem Dynamismus, gleichzeitig verrät sie „eine ontologischen Struktur der menschlichen Welt, die in unsere Reflexionen über paranoische Erkenntnis eingeht.“ (S. 64) Insofern als sich durch das erblickte Spiegelbild eine Verwandlung vollzieht, versteht Lacan das Spiegelstadium als eine Identifikation, in der sich das Ich (je) noch nicht objektiviert hat „in der Dialektik der Identifikation mit dem andern“ (S. 64). Diese Form nennt Lacan Ideal-Ich, dabei ist wichtig, „daß diese Form vor jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die […] nur asymptotisch das Werden des Subjekts erreichen wird, wie erfolgreich immer die dialektischen Synthesen verlaufen mögen, durch die es, als Ich (je), seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muß.“ (S. 64) Für Lacan markiert das Spiegelbild „die Schwelle der sichtbaren Welt […], falls wir die Rolle des spiegelnden Apparates in den Erscheinungsweisen des Doppelgängers entdecken, in denen sich psychische Realitäten manifestieren“ (S. 65). Das Spiegelbild als Spezialfall der Funktion der Imago ist imstande, eine Beziehung zwischen Innen- und Umwelt herzustellen – „das Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers, in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.“ (S. 67) So muss sich dieser zerstückelte Körper ständig Ich-Prüfungen (récolements du moi) unterziehen, damit er vom Spiegel-Ich (je spéculaire) zum sozialen Ich (je social) gelangen kann.


Mit seinem Aufsatz zum Spiegelstadium leistet Lacan einen psychologisch bzw. psychoanalytisch geprägten Beitrag zum Thema Subjektivität. Dabei geht er von Beobachtungen von und an Säuglingen aus. Dieser Ansatz ermöglicht eine neue Perspektive auf den Doppelgänger. Sein Gedankengang hat Einfluss auf die Sicht der romantischen Literatur des Doppelgängers, durch seinen Bezug zur Kulturwissenschaft bieten sich aber auch durchaus neue Interpretationen alter Werke und Mythen an. Dieser Aspekt wird besonders klar durch die Verbindung zum kreativen Akt des Schreibens und zur Literaturproduktion, wenn sich Lacan auf die Genese des Ich im Imaginären bezieht. Seine theoretischen Ausführungen hatten großen Einfluss und haben in der Folge zu diversen Auslegungen und weiteren Forschungen geführt.