Günther (1968): Das Groteske bei N.V. Gogol‘

Günther, Hans: „Das Groteske bei N.V. Gogol‘. Formen und Funktionen.“ München 1968. (Hier: Kapitel 6, „Die Nase“, S. 131-147)
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In dem Kapitel zur Phantastischen Groteske der 1836 publizierten Novelle Die Nase gibt Günther einen Überblick über das Groteske in Gogols Werk, satirisch illustriert am Motiv der Nase und vermittelt durch das Nebeneinanderstellen von Normalem und Absurdem. Diese Nebeneinanderstellung, so Günthers zentrale These, ermöglicht literarisch erst die phantastische Groteske. Eine weitere These ist, dass die Groteske mithilfe von Phantastik und Absurdität negative Aspekte der Wirklichkeit aufzeigt.

Bereits Puškin stellte in der Zeitschrift Sovremennik, in der die Novelle erschien, das Besondere von Gogols Erzählung heraus: „Unerwartetes, Phantastisches, Fröhliches und Originelles“. Auf die Publikation folgten viele, überwiegend psychoanalytisch/psychologische Interpretationen. Günther erkennt in dem Aufsatz Naturalističeskij grotesk. Sjužet i kompozicija povesti Gogolja ‚Nos‘ (1920) von Viktor Vladimirovich Vinogradov die „zweifellos gründlichste und materialreichste“ (S. 132) Untersuchung und stützt seine eigene Argumentation darauf.

In Bezug zu Vinogradovs Verweis auf „nasologische“ Literatur der 1920er und 30er Jahre zeigt Günther „nasologische“ Kalauer im Werk Gogols auf und stellt fest: „Die Verselbständigung von Nasen ist in Gogol’s Werk offenbar nichts Ungewöhnliches“ (S. 133). Das Motiv der Nase wird in der Novelle durch die Personifikation derselben „im Bereich der Fabel entfaltet“ (S. 133), in der Günther einen vergleichbaren Vorgang bei der Metapher sieht. Die Nase wird in der Novelle auf der Handlungsebene zu einer eigenständigen Person, auf der literarischen Ebene findet hier eine „Wortmetamorphose“ (S. 134) statt. Günther unterstützt seine Argumentation durch die Darlegung der Feinheiten von Gogols Sprache, die diese Wortmetamorphose erst ermöglichen. Die Ambivalenz im Text, so Günther, wird fortgeführt in der Aufspaltung zweier Auffassungsebenen, die erst durch das „Spiel mit der Doppelbedeutung“ (S. 135) gelingt. An Vinogradovs Ausführungen anschließend, erkennt Günther: die „Ambivalenz des Nasen-Motivs zeigte nur das Hinüberwachsen eines Kunstbegriffs der Stilgroteske in die Komposition, ohne das eigentliche Wesen der grotesken Struktur der Novelle auszumachen“ (S. 136). Groteske erzeugt Gogol in der Novelle dadurch, dass sich phantastische und realistische Darstellungsebene kreuzen und kaum auseinandergehalten werden können, das Phantastische erscheint dabei sogar nahezu real. Günther nimmt an, dass Gogol „nach der Eliminierung der Traummotivierung die Notwendigkeit der Unterstreichung des ‚Ungewöhnlichen‘ der Ereignisse verspürte“ (S. 137) und verweist in Bezug zu Ju. Mann auf die ‚Naivität‘ des Erzählers, mit der dieser die Ereignisse als gleichsam natürlich darstellt und die das Groteske erzeugen. Bewiesen sieht Günther diese Erkenntnisse im „Widerlegen von Zweifeln des Helden“ (S. 137). In dieser spielerischen Grenzaufhebung von Phantastik und Realität, die die Komposition der Novelle ausmacht, erkennt Günther den zentralen Aspekt für die Entstehung einer „Atmosphäre der Absurdität“ (S. 138). Charles E. Passages These, in der Novelle sei eine Parodie auf E. T. A. Hoffmanns Schreibweise zu sehen, lehnt Günther ab, argumentierend, es handle sich vielmehr um einen „Kunstbegriff Sternescher Erzähltradition“ (S. 138). An der Entstehung einer absurden Atmosphäre trage weiterhin der Mangel an logischer Verbindung von erstem und zweitem Teil bei, über den die Ähnlichkeit von Anfang und Ende hinwegtäuschen soll. Die „getrennten Sujetlinien“ (S. 139), die im Zuge dessen entstehen, „vereinigen sich durch den Hinweis des Polizisten auf Ivan Jokovlevič, der aber nur einen assoziativen, keinen logischen Zusammenhang begründet“ (S. 139). Günther sieht im dritten Teil wiederum in der Tatsache, dass bei der nächsten Rasur der Vorfall der Nase nicht erwähnt wird, eine Steigerung der Absurdität und folgert, das „Alogische ist gewissermaßen in die Kompositionsstruktur der Novelle eingegangen und bewirkt eine Desorientierung des Lesers“ (S. 139). Der nun vollends verwirrte Leser kann sich nur noch an der Erzählerfigur orientieren: Der Erzähler, im „Spiel mit dem Sujet“ (S. 140), trägt jedoch selbst zu einem nicht geringen Teil zur Absurdität der Geschichte bei, indem beispielsweise „Lesermeinungen parodierend vorweggenommen“ (S. 141) werden. Über die Handlungsebene hinaus „wird die Unschicklichkeit der Geschichte erwähnt, wohinter sich ein satirischer Hieb gegen den ‚Moskovskij nabljudatel‘‘ verbirgt, der die Novelle Gogol’s als ‚gemein‘ und ‚schmutzig‘ abgelehnt hatte, und schließlich werden Rezensentenstimmen imitiert, die Moral und Nutzen für das Vaterland fordern“ (S. 141). Im Schluss der Novelle erkennt Günther die Positionierung des Erzählers als Autor einer Groteske, der die Überschneidung von Realität und Phantastik nicht aufzulösen gedenkt.

Setschkareffs Thesen bekräftigend, die Novelle sei als „Protest gegen die von offizieller und spießbürgerlicher Seite gestellten Forderungen nach lehrender und nützender Kraft geschrieben“ (S. 141f., nach V. Setschkareff: Zur Interpretation von Gogol’s „Nase“. In: Zeitschrift für slavische Philologie 21 (1952), S. 121), und es sei eine Parallele zu Puškins „Domik v Kolomne“ (1833) zu ziehen, verweist Günther auf Puškins Einfluss auf Gogol in den Jahren 1833-1836. Von den einseitigen Interpretationen von Setschkareff und Vinogradov, für die „der Inhalt der Novelle von vornherein ‚unsinnig‘ ist“ (S. 142f.), grenzt sich Günther ab, und macht deutlich, dass die satirische Funktion der grotesken Struktur und die zentrale Figur Major Kovalev in den Fokus der Betrachtung rücken müssen. In dieser Figur erkennt Günther „eine typisch verallgemeinerte Gestalt, […] Kovalev verkörpert den Typ des gemeinen, eitlen, nach Besitz und Karriere strebenden Bürokraten des nikolaitischen Rußland“ (S. 143).

Satirische Typisierung und groteske Struktur schließen einander keineswegs aus. Da das Groteske von einer freischwebenden Phantastik weit entfernt ist und das Vorhandensein einer realistischen Darstellungsebene zur Voraussetzung hat, entstehen im Grenzbereich zwischen Phantastischem und Realem mannigfache Berührungspunkte […].

S. 143

Diese Berührungspunkte findet Günther am Anfang der Novelle, in der mehrfach angedeuteten Motivierung des ungewöhnlichen Vorfalls und in der Darstellung der Nase als Staatsrat. Die satirische Typisierung und groteske Struktur schließen sich nicht nur aus, vielmehr verstärkt die Groteske den satirischen Effekt und führt „die schlechte Wirklichkeit ad absurdum“ (S. 145). Günther schließt seine Betrachtungen zur Novelle Gogols ab mit der folgenden Betrachtung:

Doch hinter der Komik der Aufzählung verbirgt sich ein satirischer Unterton, wenn in dieser mosaikartigen Aneinanderreihung verschiedener semantischer Ebenen das Menschliche auf der Stufe der Dinge abgehandelt wird, indem ein Kutscher und eine Leibeigene neben Droschke, Apfelschimmel, Radieschensamen, Landhaus und alten Schuhsohlen als Handelsware erscheinen. Die damit vollzogene Einebnung des Menschen auf dingliche Qualitäten weist dadurch, daß sie den Warencharakter der Leibeigenen bewußt macht, auf eine wirkliche Verdinglichung hin.

S. 146

In der Nebeneinanderstellung von Absurdem und Normalem wird letzteres in Zweifel gezogen: „Die Satire besteht in der Hervorkehrung der Unsinnigkeit des gesellschaftlich ‚Normalen‘“ (S. 146).


Die zentrale These Günthers der phantastischen Groteske durch die Nebeneinanderstellung von Absurdem und Normalem erwies sich als Anregung weiterer Untersuchungen zu dem Thema.