Freud (1919): Das Unheimliche

Freud, Sigmund: „Gesammelte Werke. Zwölfter Band. Werke aus den Jahren 1917-1920.“ Frankfurt am Main 1966. (Hier: S. 227-268)
Straßenlaterne im Nebel | Prosa & Papier

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856-1939), dessen wissenschaftliches Gebiet eigentlich nicht die Ästhetik („Lehre vom Schönen“/„Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens“, S. 229) ist, beschäftigt sich in Abgrenzung zu Ernst Jentsch (1867-1919) in seiner Schrift mit dem Phänomen des Unheimlichen, das er in der Literatur nachweist. Anhand literarischer Beispiele untersucht Freud das Unheimliche als „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“ (S. 231) Zunächst schaut sich Freud den Sprachursprung an: Entgegen weitläufiger Meinungen bezeichnet unheimlich nicht das Gegenteil zu heimlich/heimisch/vertraut, sondern es beschreibt eine neue Komponente, die dem Vertrauten hinzugefügt wird. Freud erkennt durch die Arbeit mit Wörterbüchern, dass die Sphäre des Schreckhaften für die deutsche Sprache spezifisch ist, weiterhin sei unheimlich „irgendwie eine Art von heimlich“ (S. 237), indem der Begriff heimlich eine Ambivalenz in sich trägt.

Für die Untersuchung der „Personen und Dinge, Eindrücke, Vorgänge und Situationen […], die das Gefühl des Unheimlichen in besonderer Stärke und Deutlichkeit in uns erwecken vermögen“ (S. 237) zieht Freud den Dichter E.T.A. Hoffmann, „der unerreichte Meister des Unheimlichen in der Dichtung“ (S. 246), heran, dessen Automaten und Puppen prädestiniert sind, das Unheimliche hervorzurufen – nämlich aufgrund ihrer Verbindung zum Wahnsinn und zum Phänomen der Epilepsie. In der Erzählung Der Sandmann sind es die Puppe Olimipia und vor allem das Motiv des Sandmanns selbst, die die Wirkung des Unheimlichen hervorrufen. Das Unheimliche der Gestalt des Sandmanns ist begründet durch und zurückzuführen auf die Verknüpfung mit der Kinderangst der Vorstellung vom Raub der Augen und der damit zusammenhängenden Kastrationsangst. Im Roman Die Elixire des Teufels sind es die Motive, die für das Gefühl des Unheimlichen bewirken. Das auffallendste Motiv ist dabei das des Doppelgängers „in all seinen Abstufungen und Ausbildungen […], also Ich-Verdoppelung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung – und endlich die beständige Wiederkehr des Gleichen, die Wiederholung der nämlichen Gesichtszüge, Charaktere, Schicksale, verbrecherischen Taten“ (S. 246). Bei der Ausbildung des Ichs, psychoanalytisch gesehen, kann sich im pathologischen Fall eine Instanz entwickeln und sich dem Ich entgegenstellen, wodurch „der Mensch der Selbstbeobachtung fähig ist“ (S. 248). Das Unheimliche des Doppelgängers liegt dann darin begründet, dass dieser erst zum Schreckbild geworden ist, zuvor jedoch noch positiver besetzt war. In der menschlichen Erfahrungswelt entsteht das Gefühl des Unheimlichen durch die unbeabsichtigte Wiederkehr beziehungsweise Wiederholung, den Aberglauben und die Angst vor dem sogenannten bösen Blick, durch die Weltauffassung des Animismus oder die Vorstellung des Todes, Geistern und Gespenstern. Allgemein ist es die Verwischung der Grenze von Phantastischem und Wirklichkeit, die den Effekt des Unheimlichen hervorruft.

Letztlich definiert Freud das Unheimliche als „das Heimliche-Heimische […], das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist“ (S. 259), jedoch ergänzt er diese Definition. Seine Analyse zeigt, dass sich zu seinen angeführten Beispielen Gegenbeispiele finden lassen (bspw. Wilhelm Hauff, Die Geschichte von der abgehauenen Hand, 1826 vs. Herodots Erzählung vom Schatz des Rhampsenit). Freud erkennt dabei die Sonderstellung des Märchens, in dem die Sphäre des Todes nicht als unheimlich erscheint (vgl. Lüthi). Er unterscheidet das fiktionale Unheimliche vom realen erlebten Unheimlichen, welches „weit einfachere Bedingungen [hat]“ (S. 261). Das Unheimliche in der Fiktion rührt vom alten Glauben an diese Phänomene her, die zwar überwunden sind, dieser Überwindung sind wir uns jedoch nicht vollständig sicher. Indem der Dichter seine Darstellungswelt frei gestalten kann, hat er drei Möglichkeiten, mit dem Unheimlichen umzugehen: Der Dichter kann (1) unheimliche Wirkung erzielen bei in der tatsächlichen Erlebniswelt des Menschen nicht Unheimlichem, (2) dieses Verhältnis umkehren (beispielweise bei William Shakespeares Hamlet, Macbeth, Julius Caesar oder Homers Götterwelt), oder (3) dem Menschen als unheimlich Erscheinendes als solches im Text darstellen, also „alles was im Leben unheimlich wirkt, wirkt auch so in der Dichtung“ (S. 265). Freud erkennt dabei die Bedeutung des Erzählers, der die Bedingungen der Textwelt stellt und den Leser zu lenken vermag – und so verschiedene Wirkungen erzielen kann.


In seinem Aufsatz geht Freud von einem etymologischen Fokus aus und stellt so eine Verbindung zum Bereich der Sprach- und Literaturwissenschaften her. Er betrachtet einen bis dahin aus der Forschung ausgeschlossenen Gegenstand, nämlich den Bereich des ‚Nicht-Ästhetischen‘, und ebnet somit den Weg für weitere Theorien in diesem Bereich. Seine Vorgehensweise ist gut gegliedert und leicht nachvollziehbar. Sein Ansatz zum Subjektivitätsdiskurs ist sicherlich spannend, wenn auch seine allumfassende Sexualisierung der Dinge kritisiert werden kann.

Bemerkenswert und vorausschauend sind jedoch Freuds Anmerkungen zum Märchen, wenn er behauptet: „In der Welt der Märchen sollen Angstgefühle, also auch unheimliche Gefühle überhaupt nicht geweckt werden.“ (S. 268) Der Literaturwissenschaftler Max Lüthi (1909-1991) erkennt das Fehlen des Numinosen später in seiner Beschäftigung mit dem europäischen Volksmärchen als eines der Hauptmerkmale des Märchens.