Willy R. Berger untersucht in seinem Aufsatz „Drei phantastische Erzählungen“ Chamissos ‚Peter Schlemihl‘, E. T. A. Hoffmanns ‚Die Abenteuer der Sylvester-Nacht‘ und Gogols ‚Die Nase‘ in Hinblick auf die Entwicklung des literarisch Phantastischen zum Absurden.
Bergers zentrale These ist, dass die drei phantastischen Erzählungen „durch literarischen Einfluß, durch Nachahmung und durch Parodie miteinander verbunden sind“ (S. 137). Während Chamisso das Wundersame und Märchenhafte betont und „noch durchaus dem XVIII. Jahrhundert verpflichtet“ (S. 137) ist, ist Hoffmann mit der Ansiedlung des Phantastischen zwischen Wunderbarem, Rationalem und Unheimlichen der literarischen Romantik zuzuordnen, während Gogol, scheinbar beide parodierend, die neue literarische Kategorie des Absurden erschafft.
Berger erkennt in E. T. A. Hoffmann einen Schriftsteller, der „den vielleicht bedeutendsten Einfluß auf die russische Literatur ausübt“ (S. 106), vor allem auf die Werke Puškins, Gogols und Dostojevskijs, und sieht den Höhepunkt der russischen Hoffmann-Rezeption in den Jahren 1830-1840. Der Nevkij Prospekt, Die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, Das Portrait und Die Nase sind Zeugnisse dieses Einflusses Hoffmanns auf Gogol. Im Gegensatz zu Hoffmann aber „legt [Gogol] doch einen sehr viel schärferen Realismus an den Tag“ (S. 107). Berger verweist auf die gängige Meinung, die Novelle Die Nase sei „eine scherzhafte Verspottung des romantischen Doppelgänger-Motivs“ (S. 107), grenzt sich in seiner Untersuchung jedoch vom Problem von Einfluss und Wirkung ab und legt stattdessen den Fokus auf den thematologischen Aspekt, der sich in der Gattung der phantastischen Erzählung entfalte.
Berger weist zunächst auf die Verbindung der untersuchten Erzählungen hin: Hoffmanns Kapitel Die Geschichte vom verlornen Spiegelbild in Abenteuer der Silvester-Nacht knüpft an Chamissos Peter Schlemihl an, und es kann davon ausgegangen werden, dass auch Gogol der Inhalt des Peter Schlemihl bekannt war. Bei Gogol und Hoffmann erkennt Berger thematologische Gemeinsamkeiten nicht nur in der Wahl des Themas, des Doppelgängertums, sondern auch im Motiv des Teufelspakts, in der Konzeption und äußerlichen Erscheinung der Frauenfiguren und dem damit verbundenen „Konflikt zwischen romantischer Schwärmerei und bürgerlicher Gegenwelt“ (S. 116); einen Unterschied „substantieller Natur“ (S. 112) liegt indes im Fehlen des unheimlichen Charakters in Chamissos Erzählung, der durch das Skurrile nicht aufkommt, und vor allem in der „erheblich voneinander abweichenden Erzählstruktur“ (S. 114). Beide Texte können als phantastisch definiert werden, aber „Chamissos Erzählung ist dem Märchen sehr viel näher als die Erzählung Hoffmanns“ (S. 114), Hoffmanns Erzählung weist die Grundbedingung des phantastischen Texts auf, „die der Ambiguität“ (S. 116). Das phantastische Motiv jedoch, das beiden Erzählungen zugrunde liegt, liegt auch in Gogols Novelle Die Nase vor. Ein wesentlicher Unterschied findet sich trotzdem bei Gogol:
Sowohl die moralisch-sittliche als auch die religiöse Dimension, in welche Begriffe wie Verfehlung, Schuld, Frevel verweisen, wie überhaupt der gesamte christlich-theologische Bezugsrahmen, der mit den Motiven des Teufelspaktes und der Seelenverschreibung gegeben ist, sind bei Gogol dahingefallen.
Es fehlen aber auch so gut wie alle Versuche, den Leser hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Erzählten im Unschlüssigen zu halten. […] Trotzdem spielt auch Gogol, wie Hoffmann, mit den verschiedenen Möglichkeiten der Erklärung des Unerklärlichen, führt sie aber anders als dieser mit konsequentem Bedacht ad absurdum. […]
Auch die Motive des Traums und der Trunkenheit erscheinen nur in der Form der Persiflage.
S. 118 f.
Gogols entschlossenes Abweichen „von einer literarischen Tradition […], in welcher das Phantastische gleichsam noch durch Rationalität in Schach gehalten war“ (S. 120) zeigt sich schließlich vor allem in der anti-romantischen Tendenz, die in der Heldenkonzeption ebenso erkennbar ist wie in dem Fehlen unheimlicher Elemente. Das Motiv der Nase, das bei Gogol nicht nur in der Novelle auftritt, hat vermutlich mehrere literarische Vorbilder, von Dantes Commedia dell’Arte bis hin zu Tristram Shandy. Ähnlich wie bei Gogol, so erkennt Berger, ist „aus der ‚Stilgroteske‘ […] die ‚phantastische Kompositionsgroteske‘ geworden“ (S. 123), die Nase jedoch, die zur Person geworden ist, kann verstanden werden als „Parodie des romantischen Doppelgängermotivs“ (S. 123). Gogol ersetzt das Unheimliche der Doppelgängerfigur durch das Skurrile der Personwerdung der Nase in einem realistischen Milieu und grenzt sich so von der literarischen Tradition der deutschen Romantik ab. Die Erzählungen Hoffmanns seien dagegen, betont Berger, noch eindeutig von romantischen Motiven geprägt, erkennbar zum Beispiel in der Wahl des Schauplatzes Italien. Allen drei Erzählungen gleich ist die Ratlosigkeit der Leser, die sich im Laufe der Erzählungen einstellt und bis zum Schluss erhalten bleibt. Hoffmann und Chamisso ähneln sich darin, dass das Doppelgängermotiv an eine moralische Komponente gebunden und mit der jeweiligen Liebeshandlung verknüpft ist: Bei Chamisso ist der Schatten „Lohn der Tugend“ (S. 127), „Hoffmann [gibt] dem Gegenwert des verlorenen Spiegelbildes einen wenn nicht moralisch positiven, so doch ambivalenten Akzent“ (S. 130). Bei Gogol jedoch „scheint sich der Verlust von Kovalevs Nase, im nachhinein betrachtet, als kaum mehr denn ein grotesk-phantastisches Impromptu herauszustellen“ (S. 133). Auch wenn Gogols traumhaft strukturierte Erzählung keinen Sinn zu haben scheint, ist sie „ein Einwand gegen die Wirklichkeit überhaupt“ (S. 136), Gogol schafft eine „neue Literatur des Übernatürlichen; in ihr betritt das Absurde die Bühne der europäischen Literatur“ (S. 136). Berger verweist auf die auffällig große Verwandtschaft von Gogols Novelle mit Kafkas Verwandlung, die sich in ihrem grotesk-phantastischem Motiv annähern, ebenso in der „Art und Weise, wie man in beiden Erzählungen nach dem stattgehabten Einbruch des Phantastischen wieder zur Tagesordnung übergeht“ (S. 137), erzählt „in derselben leidenschaftslosen und nüchtern protokollierenden Manier“ (S. 137). Die phantastische Literatur hat, wie an Gogols Novelle gezeigt werden kann, den Anstoß gegeben für die neue literarische Kategorie des Absurden.
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